Neben der Wissenschaft und einer nicht zu leugnenden Leidenschaft für Sportübertragungen ist Arbeit für unabhänige Musikkultur ein Großteil meines Alltags. Gemeinsam mit Freunden führe ich seit 2008 das Label analogsoul in Leipzig. Kern der Unternehmung ist es, alternative Wege in der Finanzierung und Vermarktung von Musik zu erproben, um Musik und Musiker möglichst lange im Produktions- und Distributionsprozess von „klassischen“ Musikmarkt-Anforderungen (Formatradiotauglichkeit, bezahlte redaktionelle Inhalte, Massenmarktorientierung) fernzuhalten. Ich denke an dieser Beschreibung wird deutlich, dass wir uns nicht nur der eigenen Lage im Feld (ökonomische Außenseiter mit Innovationsanspruch) bewusst sind, sondern den Wechsel des Umfelds (Zerfall physischer Massenmarkt-Distribution, Diversifizierung der Stile und Submärkte) auch aktiv gestalten wollen. Ein prominentes Beispiel dafür ist unser Einsatz des alternativen Finanzierungsmittels Crowdfunding – Eine digitale Anlehnung an den berühmten Subskriptionskauf -, das wir nicht nur nutzen, sondern auch in Form von Vorträgen, Workshops oder Kooperationen verbreiten und somit für die unabhängige musik-kulturelle Szene im mitteldeutschen Raum durchaus mit etabliert haben.
Im Zuge dieser Arbeit sind wir natürlich Akteur erster Ordnung und versuchen neben den pragmatischen Anforderungen dieser Arbeit für unsere Musik und unsere Position im Markt zu werben. Gleichzeitig sehen wir uns besonders im Austausch mit Fans und Interessierten auf Social Media-Plattformen immer wieder mit dem Anspruch konfrontiert, unsere Arbeit und Position im Zusammenhang mit kontroversen Themen wie GEMA-Tarifreform oder weiter gefasst im Hinblick auf DIY-Kultur „an sich“ zu reflektieren.
Diese Reflexionen – häufig essayistisch, stilistisch selten abwägend und meist mit großem Widerhall verbunden – sind auch ein schönes Spielfeld für soziologische Arbeit, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen bieten sich die kontroversen Themen als Bastelecke für soziologische Theorie an. Inwiefern passt die im sozialwissenschaftlichen Mainstream mit dem Phänomenbereich i.d.R. verbundene Theorie auf das beobachtbare Beispiel? Zum zweiten liefern solche Reflexionen und vor allem die Kommentare dazu Empirie zum Weiterdenken und ins Verhältnis Setzen bestehender Theorie.
Subkulturelle Identität durch Abgrenzung von Sozialstruktur und Erleben
Ein aktuelles Beispiel aus meinem Leben als (meinungsfreudiger) unabhängiger Kulturmanager ist die Diskussion um die sehr populären, zumeist illegalen Open Air-Parties. Eine gute Einführung in das Thema liefert ein Artikel vom Tagesspiegel. Angestoßen durch den Plan Berliner Unternehmer, eine Smartphone-App zur Lokalisierung solcher Parties herauszubringen, entbrannte auf Facebook, und auch bei uns im Blog eine heftige Diskussion. Zahlreiche Blogs [1, 2, 3] griffen das Thema auf und verzeichneten Zugriffsrekorde. Die zumeist in der Geschmacksrichtung „Anfeindung“ vorgebrachten Gegenargumente verliefen entlang dreier Achsen:
- Oppurtunismus mit der Leistung anderer (Veranstalter) Geld zu verdienen
- Gefährdung illegaler Parties durch Veröffentlichung (die Anbieter antworten darauf, dass sie nur legale Parties aufnehmen würden, was den Mehrwert und die Zielgruppe der App in Frage stellt)
- Zugang zu Parties für ungebetene Besuchergruppen (Proleten und „Hipster“)
Besonders am letzten Punkt wird versteh- und erklärbar, wieso die Kritik so heftig ausfällt: Hinter der Frage der Zugänglichkeit, die bislang netzwerkförmig (Mund-zu-Mund, SMS, Facebook) verbreitet wurde, steckt eine Distinktions- und damit Identitätsfrage. Der DJ, Blogger und Soziologe freshmeat / Jan-Michael Kühn identifiziert diese am Erleben orientierte Abgrenzungs-Figur immer wieder in seiner Arbeit: Distinktionen basierend auf unterschiedlichen Vorstellungen von Ästhetik und sozialstrukturellen Unterschieden, beschreibt er „als konstitutiv für den subkulturellen Pol von Musikszenen“. Ohne hier selbst zu forschen oder geforscht zu haben, finde ich die Vermischung der bourdieu’schen Distinktion aufgrund von habitualisiertem Geschmack [Zitat Kommentar: „Cindy und Kevin aus Gohlis“] und erlebnisorientierten Argumentationen, die eher an Schulzes Lebensstilmodell anschließen [Streit um „die richtige“ OpenAir-Party], interessant.
Kommentarspalten-Empirie ad hoc
An den Kommentaren und den wechselseitigen Bezugnahmen der Kommentatoren im Beispiel des kontroversen Themas auf unserem Blog zeigen sich meines Erachtens zwei interessante Dinge. Zum einen die Irritation der wechselseitigen Positions-Zuschreibungen im Konflikt: Was heißt denn nun, für Open Airs zu sein? Abschottung oder Freigabe? Während stilistische Abgrenzungen in den Beispielen soziologischer Theorien meist sehr dichotom geschehen [Tennis vs. Rugby bei Bourdieu], bezieht sich der Streit hier (vermeintlich) auf das gleiche Territorium. Vor dem oben kurz angedeuteten Hintergrund diversifizierender Subszenen könnte das eine (dys-)funktionale Folge sein: Wenn die Distinktionen an der Oberfläche den direkten Bezug zur Sozialstruktur verbergen/scheuen und somit stärker auf symbolisch codierte Differenzen setzen, wird die „offensichtliche“ Unterscheidbarkeit [parallel zur Menge der Subszenen] geringer und die Konfliktform „Du meinst dasselbe, aber aus den falschen Gründen“ häufiger beobachtbar.
Der zweite spannende Punkt – auch wenn er sich in den Kommentaren als fälschliche Zuschreibung herausgestellt hat – ist die Einforderung eines „Rechts auf Illegalität“ sich durch die App bedroht fühlender Subszenen-Vertreter. Der beschriebene Fall bezog sich auf einen Veranstalter (auch legaler Open Airs), der mit rechtlichen Schritten gegen die Anbieter drohte, falls deren App zu Kapazitätsproblemen bei seinen Parties führen sollte. Im Anschluss mockierten sich zwei Kommentatoren (offenbar ungerechtfertigt) über die Androhung legaler Mittel durch illegale Veranstalter. Auch wenn es sich hier um ein Missverstndnis handeln sollte, ist die Begründungsfigur „Recht auf ordnungsfreie Räume“ im OpenAir-Diskurs doch häufig anzutreffen. Ohne dass ich eine konkrete Schlussfolgerung dazu hätte, faszinieren mich an dieser Figur zwei Ebenen: a) Mit Blick auf Funktionieren und Akzeptieren von Rechtsordnungen: Ist die Einräumung/Duldung solcher Freizonen vielleicht sogar funktional? Wie sieht die Perspektive von „Staat“ darstellenden und vollziehenden Akteuren wie Polizei, Ordnungsamt und Legislative dazu aus? b) Mit Blick auf die Sinnstrukturen der Vertreter dieser Positionen: Was ist damit wirklich gemeint? Mein Verdacht: Eine eigentlich sehr strukturierte Form von Freiheit mit klaren Rollen, Funktionen und einem hohen Anspruch an Erwartungstreue [z.B. dass man auf der Party für Geld Alkohol kaufen kann und nicht bestohlen wird] – Also alles andere als ein ordnungsfreier Raum.
Mal schauen, wann es mir in meinem akademischen Leben gelingt, diesen Aspekt meiner Arbeit systematisch soziologisch zu bearbeiten.