(alle Bilder via Redditor Frankenstone3D)
Im Jahr 1988 veröffentlichte Bruno Latour unter Pseudonym den Aufsatz „Mixing Humans and Non-Humans Together“, der zu einem Klassiker der STS-Texte werden sollte. Wie auch der Fahrstuhl-Text von Hirschauer nimmt Latour eine Beobachtung aus dem Universitätsalltag zum Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung. Dabei handelte es sich um ein von einem Mitarbeiter verfasstes Hinweisschild an der Tür zum Flur des Instituts: “The door-closer is on strike, for God’s sake, keep the door closed.” Anhand dieser sinnbildlichen Zuschreibung von Handlungsfähigkeit an den (sich seiner Arbeitnehmerrechte bewussten) Türschließer entwickelte Latour eine Argumentationsreihe, in der Türen und Wände erst ethnografisch befremdet wurden, um schließlich auf die tausenden kleinen, konkrete soziale Zwecke erfüllenden „lieutenants“ in der Alltagswelt hinzuweisen.
Die Meme-Lawine
An der Philosophischen Fakultät der Universität Mainz kam es dieser Tage aufgrund eines ähnlichen Schilds zu einem bemerkenswerten Phänomen, das soziologisch allerdings eine ganz andere Geschichte erzählt. Bereits vor einigen Wochen hat eine automatische Schwingtür an einer barriefreien Zugangsrampe zum Gebäude ihren Dienst versagt. Um auf diesen Umstand hinzuweisen, und vermutlich enttäuschtes oder gar gefährdendes Rütteln an der defekten Tür zu verhindern, wurde ein Zettel mit dem Hinweis „DEFEKT – Techniker ist informiert“ angebracht. Die Tatsache, dass trotz der immerhin schriftlich ausgewiesenen Information des Technikers über Wochen nichts passierte und stattdessen nur ein zweites Schild selbigen Inhalts (ein Aufsteller in Serifenschrift) erschien, hat dann zu etwas sehr Schönem geführt: Menschen begannen, der leeren Versprechung des zudem recht administrativ-uncharmanten Schildes eigene kommunikative Botschaften hinzuzufügen. In Großbuchstaben ergänzte jemand – im Duktus der vorangegangenen Schilder und über die Ursache der ausbleibenden Reparatur spekulierend – „TECHNIKER AUCH DEFEKT.“
Einmal zur Beteiligung am öffentlich sichtbaren Meinungsaustausch aufgefordert, folgten in den kommenden Tagen sehr, sehr viele Besucher des Gebäudes der philosophischen Fakultät dem Beispiel, so dass sich eine bemerkenswerte Dynamik entwickelte, an deren Ende nun wohl die Ausstellung und sicherlich auch soziologische Reflexion der vergangenen sieben Tage stehen. Was war passiert?
Als Antwort auf den noch schmucklosen Ausdruck in Versalien – und vielleicht auch dessen Lesart als Schreien aus der online-medialen Kommunikation (Caps Lock) reflektierend – erstellte jemand ein Meme, das den cholerischen Protagonisten einer Reality-TV-Serie zeigt, versehen mit dessen Ausruf: „Es bleibt alles so wie es ist“. (Eigentlich: „Halt Stopp! Das bleibt alles so wie’s hier ist.“). Am Folgetag war das erste Meme bereits von neun weiteren Memes umrandet.
Und wiederum einen Tag später, waren der Aufsteller, die Tür und die angrenzende Fensterfläche gänzlich von wortwörtlichen Meme-Postings eingenommen.
Parallel zu den vor Ort sichtbaren Kommunikationsschnipseln erfolgte durch den User Frankenstone3D eine Dokumentation im Web, die zu zahlreichen Blogartikeln über die defekte Tür und die Meme-Welle führte. Über das Wochenende schließlich wurde auch eine Facebook-Seite für „die virale Philo-Tür“ eingerichtet. Befeuert von dieser Aufmerksamkeit legten die Besucherinnen des Gebäudes noch einmal richtig los, bis die Tür gestern nun repariert wurde – Selbstverständlich medial begleitet und auf Youtube hochgeladen.
Erstdokumentation durch User „Frankenstone3D“: „Broken Door at Work“
Day 1: https://imgur.com/a/gnTl6 (reddit: http://redd.it/2u40al)
Day 2: https://imgur.com/a/cj3ez (reddit: http://redd.it/2u7me2)
Days 3-5: https://imgur.com/a/cJ3el (reddit: http://redd.it/2uj8ky)
Day 6: https://imgur.com/a/EFwcr (reddit: http://redd.it/2urbj5)
Day 7: https://imgur.com/a/DCg61 (reddit: http://redd.it/2urcq1)
Lehr‘ von der Geschicht?
Würden wir die defekte Tür und den abwesenden Techniker versuchen, wie den streikenden Türschließer zu lesen, müssten wir uns über die Memes als Zusammenspiel von Menschen und Nicht-Menschen unterhalten, was ich nicht für den Kern des Phänomens hier halte. Ohne die Zeit zu haben, eine geschlossene Erklärung zu liefern, will ich aber ein paar Erklärungsansätze versammeln. Sie alle basieren auf der Feststellung, dass hier etwas ‚aus dem Internet‘ in ‚die Realität‘ gebracht wurde, und dann dorthin wieder zurück. Und das alles ohne an Parasozialität oder anderen angedichteten Krankhheiten zu leiden, sondern mit Selbstverständlichkeit, Sinnüberschuss und Spaß.
1.) Lebensweltlicher Rat: Wenn Sie einen Missstand in einer Behörde behoben wissen wollen, machen sie ihn (massen-)medial öffentlich. (In der Studentenzeitung wurde die Tür bereits deutlich zuvor thematisiert, repariert wurde sie erst, als sogar die Öffentlich-Rechtlichen berichteten.)
2.) kulturelle Formen der Kommunikation: Ohne einzelne Memes hier interpretieren zu wollen, lässt sich dennoch festhalten, dass sie sich einer vergleichsweise simplen Funktionsweise (Textzeile oben, kanonisierte Bildhintergründe, Textzeile unten) bedienen. Diese kulturell geteilte Form der Reduktion ermöglicht erst die scheinbar unerschöpfliche Vielfalt von Witzen und macht sie vor allem anschlussfähig. Und das weit über die deutschen Sprachgrenzen hinaus, wie die Rezeption der Meme-Welle zeigt.
3.) kommunikative Funktion wichtiger als mediale Realisierung: Wenn es eines guten Beispiels bedarf, um zu zeigen, warum die Unterscheidung in Gattungen oder Kategorien von Medien per se nichts erklärt oder beschreibt, dann dieses Phänomen. Memes, die sonst am Bildschirm erstellt, konsumiert, verbreitet und bewertet werden, wurden hier ausgedruckt, angepinnt und wiederum fotografiert, online eingestellt, verbreitet, … Die Konstanz der kommunikativen Funktion in beiden Fällen – einen Missstand sarkastisch aufdecken und ein Publikum aus imaginierten anderen zu erheitern – ist offensichtlich. [Frappierend wie das metaphorische des Begriffs „Postings“ hier aktualisiert wird.]
4.) Ursachen von Viralität: Warum ist die Tür als Gegenstand der Berichterstattung viral geworden? a) Inhaltsebene ist selbst schon „viral“, beziehungsweise neigt dazu b) die Öffentlichenkeiten vor Ort, im Netz und die der massenmedialen Berichterstattung erschufen eine wechselseitige Dynamik – Wobei die Wirksamkeit in Richtung Massenmedien immer mehr abnehmen dürfte. Mal schauen, wann mir meine Eltern (keine regelmäßigen Konsumenten von Image Boards und Blogs) von der Tür erzählen 🙂
5.) Etwas, das ich übersehe?: Ab in die Comments!
6 Kommentare
Nicht dass Du was übersehen hast. Aber man könnte eine etwas andere Deutung vornehmen. Das für mich Entscheidende an dem Phänomen hast Du eher nebenbei erwähnt, nämlich dass es sich dabei um einen sarkastischen Kommentar handelt. Aber nicht etwa um einen Kommentar zu dem Missstand der kaputten Tür, sondern zu dem Ärgernis, dass trotz offensichtlicher Kenntnis der kaputten Tür durch den Gebäudetechnikers nichts getan wird, um die Tür zu reparieren.
Dass die Form der Mitteilung, also das Verbreitungsmedium, hier keine Rolle spielt, sehe ich genauso. Ein vormals nur aus dem Internet bekanntes Format entpuppt sich als doch nicht so mediengebunden, wie angenommen. Mithin scheint es sich bei dem Nachahmen und der sich anschließenden medialen Verbreitung um einen Verstärkereffekt zu handeln. Sarkasmus ist meines Wissens keine Kommunikationsform über jemanden, sondern richtet sich direkt an den Adressaten. Je länger der Gebäudetechniker nicht gehandelt hat, desto größer wurde die Aufmerksamkeit. Und erst das hat letztlich den Gebäudetechniker so stark unter Druck gesetzt die Tür endlich zu reparieren. Es fragt sich, wie lange die Tür kaputt geblieben wäre, wenn niemand die Zettelchen dahin geklebt hätte?
Was ich etwas befremdlich finde, ist dass Du völlig ironiefrei die Botschaft dieses Phänomens als lebensweltlichen Rat interpretierst. Ist der Witz daran nicht vielmehr, dass es wirklich erst soweit kommen muss, dass durch die vermeintlich große Aufmerksamkeit, die die massenmediale Verbreitung suggeriert, ein so großer Handlungsdruck aufbaut wurde, dass der Gebäudetechniker handeln musste, wenn er nicht wie der letzte Idiot dastehen will? Ebenso wurde damit die Verwaltung unter Druck gesetzt, weil sich irgendwann natürlich auch die Frage stellt, wieso die Vorgesetzten diese Untätigkeit dulden. Liest man das Phänomen nur als lebensweltlichen Rat, dann würde man diese Missstände noch legitimieren, denn der Sarkasmus wird dabei völlig verkannt.
Dass das Phänomen so eine große Resonanz ausgelöst hat, liegt vermutlich daran, dass diese Begebenheit symptomatisch für die Servicewüste Deutschland ist. Selbst offensichtliche Missstände werden einfach nicht behoben, sondern man muss erst einen gewissen öffentlichen Druck aufbauen, damit überhaupt etwas passiert. Kennt in irgendeiner Form jeder, oder?
Ein interessanter Nebenaspekt ist noch, dass es sich bei diesem Phänomen durch die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit um eine Art der Überwachung und Kontrolle handelt, die aber niemand für problematisch zu halten scheint, sondern sogar für legitim.
Ich glaube, dass der Ablauf sogar noch etwas komplizierter ist: Den Techniker gab es nie. Beziehungsweise die an der Uni angestellten Techniker waren nicht in der Lage, das Problem zu lösen, da ihnen das betreffende Teil schlicht gefehlt hat. Vermutlich war es sogar so, dass die ursprünglich eingebaute Türöffnung gar nicht zu reparieren war, sondern ein neuer Auftrag ausgeschrieben / ausgelöst werden musste. Statt einer Zurechnung auf eine konkrete Person vor Ort, den Techniker, welche gar nicht möglich beziehungsweise sinnvoll war. Mit dem Hinweis „Techniker ist informiert“ wurde das Problem auf eine kommunizierbare Formel gebracht, die den tatsächlichen Interdependzen von öffentlicher Verwaltung, Wartungsverträgen, Haustechnik-Budget und zuhandenen Ersatzteilen nicht gerecht wird.
Wenn wir die Memes als Thematisieren dieser alltagsweltlich schwer fassbaren (und normativ durchaus als unnötig zu wertenden) Kompliziertheit betrachten, dann sehe ich hier eher eine spielerische Selbstvergewisserung der unterschiedlichen Steakholder der Uniöffentlichkeit. Und das Schöne an dem Phänomen ist, dass es diesen unterschiedlichen „Anteilseignern“ an der sozialen Situation Universität Gelegenheit gegeben hat, gemeinsam darüber zu kommunzieren. Das ist trotz der Gleichzeitigkeit der ganzen Menschen dort keine Selbstverständlichkeit. In der zugespitzten Phase der Prüfungszeit konnten sowohl Studenten (gestresste wie eher an Unterhaltung interessierte), an der Kompliziertheit der Verwaltung leidende Mitarbeiter, das Dekanat und zunehmend auch die Campuszeitung als Erzeugerin einer uniinternen Öffentlichkeit daran partizipieren.
Und über Smartphones, soziale Netzwerke und frei zugängliche Drucker im Computerpool ganz unabhängig ihres Status in der Organisation. Vor diesem Hintergrund finde ich Deine letzte These zum panoptischen Moment dieser Meme-Explosion ganz interessant. Ich sehe sie aufgrund der oben genannten Abwesenheit eines Schuldigen weniger als Kontrolle und Überwachung eines einzelnen, als ein Moment von Sinnüberschuss, das weit über den ursprünglichen Missstand hinaus eine Kompensations- und wie gesagt Selbstvergewisserungsfunktion hat. Ob es sich um (panoptische, medial vermittelte) Überwachung handelt, ließe sich überprüfen, wenn dort zukünftig andere bauliche Missstände per Meme angemerkt und nach kritischer Menge an Wahrnehmung behoben werden. (Und nach Foucault: die Techniker aus Angst vor Memes Missstände von selbst beheben, bevor sie angemerkt werden.) Bis dahin sehe ich es eher als krisenhaften Moment von Alltagsleben, der sich durch diese Form der Thematisierung zu einer Selbstvergewisserung der Uniöffentlichkeit verselbstständigt hat. Also eher Sichtbarmachung von sonst unsichtbaren sozialen Beziehungen.
Ich kann die These von der Abwesenheit des Schuldigen nicht nachvollziehen. Man kann das zwar so sehen, wie Du es beschrieben hast. Das ist mir aber zu kafkaesk beobachtet. Im Rahmen einer Organisation sind Verantwortlichkeiten verteilt. Wenn dem nicht so sein sollte, weist dies nur auf gravierende Mängel in der Organisationsstruktur hin. Irgendjemand hat’s verbockt. Und irgendjemand hat schließlich auch die Reparatur der Tür veranlasst. Die hat sich ja nicht von allein repariert. Insofern finde ich die These von der Abwesenheit eines Schuldigen ziemlich gewagt.
Den öffentlichen Druck als Überwachung und Kontrolle zu beschreiben, war sicherlich etwas plakativ und Du sprichst genau die Theorietradition an, auf die ich anspielen wollte. Ich selbst sehe es auch nicht so. Mit Foucault könnte man es aber so sehen. Er hatte am Panoptikum gezeigt, dass der Glaube, dass man im Fokus der Aufmerksamkeit von jemandem steht, das Verhalten des Beobachteten diszipliniert. Ich würde statt von Disziplinierung lieber von Veränderung sprechen. Der Begriff Disziplin stellt zu einseitig auf den repressiven Charakter ab. In face-to-face-Interaktionen konstituiert sich dieses Beobachtungsverhältnis wechselseitig und niemand stört sich daran. Doch bereits dieses wechselseitige Beobachtungsverhältnis verändert das Verhalten der Beteiligten, denn ohne den Kommunikationspartner, also allein, würden sie sich anders verhalten. Mit den Massenmedien haben sich nun ganz neue Formen etabliert die Aufmerksamkeit einer immer größeren Anzahl von Personen auf einen Sachverhalt zu richten. Mithin wurde dies ja in dem diskutierten Beispiel durch die, wenn man so will, crossmediale Verbreitung erreicht. Und ich denke, dass der Glaube im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen, den Handlungsdruck bei den Verantwortlichen erhöht hat. Ohne diese Hintergrundannahme würde der lebensweltliche Rat, den Du aus diesem Phänomen herausgelesen hast, gar keinen Sinn machen.
Mit Überwachung und Kontrolle im strengen Sinn hat das nichts zu tun. Gleichwohl würde ich den Glaube, dass man im Fokus der Aufmerksamkeit steht, nicht zu gering bewerten. Denn nur das motiviert dazu ein bestimmtes Image weiter aufrecht zu erhalten oder, sofern es bereits ruiniert wurde, es wieder herzustellen. Gleichwohl sollte man annehmen, dass es eigentlich ohne diesen öffentlichen Druck funktionieren sollte. Nur vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dem Phänomen gerade nicht um einen lebensweltlichen Rat, sondern um einen sarkastischen Kommentar. Eigentlich geht es dabei weder um die kaputte Tür, noch um den Umstand, dass trotz des Wissens über diesen Missstand nichts geschieht, sondern darum dass auf diese Weise extra nochmal darauf hingewiesen werden muss, dass andere Personen diesen Missstand auch wahrnehmen. Oder anders formuliert, es ging nicht darum die Aufmerksamkeit auf den Missstand zu richten, sondern darum die Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit für diesen Missstand zu richten. Oder nochmals anders, das Selbstverständliche musste nochmals extra betont werden. Und nur wegen dieser Abweichung wurde dieses Phänomen vermutlich auch massenmedial interessant.
Ganz kurz gesagt die These deiner Kommentare scheitert schon deutlich an Ockhams Rasiermesser. An den gut gebildeten und kritischen Haaren herbeigezogen.
Ui, jetzt wird Ockham rasiert. Kannst Du ein bischen ausführlicher werden, welche These Du meinst?
Im Fall der Tür ist es ja ganz witzig: freundlich verpacktes nicht-personengebundenes ‚public shaming‘ (das meme ist nur das Resultat oder?) um Druck auf eine hierachisch strukturierte träge Organisation (Universität) auszuüben (bzw. vielleicht ist dies schon garnicht mehr das Ziel sondern die lustige hat sich schon verselbstständigt und befriedigt ganz andere Bedrüfnisse z.B. Spaß, Inspiration).
Solange das Ziel die unbelebte Tür ist bleibt alles amüsant.
Habe gerade heute morgen einen Artikel in der NYTimes gelesen—
digitaler Mob & shaming
http://www.nytimes.com/2015/02/15/magazine/how-one-stupid-tweet-ruined-justine-saccos-life.html?smid=fb-nytimes&bicmst=1409232722000&bicmet=1419773522000&bicmp=AD&smtyp=aut&bicmlukp=WT.mc_id&_r=0