Auf ungeahnt prominente Weise wurde in den vergangenen Tagen eine der Hauptthesen eines Lehrforschungsprojekts, das ich mit gegründet habe, bestätigt. Die Gefangennahme eines syrischen Mannes, der offenbar in Chemnitz ein Sprengstoffattentat vorbereitet hatte, durch drei Syrer in Leipzig zeigt: Geflüchtete informieren sich vor allem in personalen Netzwerken wie Facebook-Gruppen.
Lehrforschung „Medien und Asyl“
Mit meiner Kollegin Vivien Sommer und Studierenden des Studiengangs Medienkommunikation erforschen wir seit Anfang 2015 die kommunikative und mediale Situation neu angekommener Geflüchteter in Chemnitz. Durch teilnehmende Beobachtungen, Interviews und partizipative Workshops mit Geflüchteten wurde uns klar, dass eine App, eine Website oder ein wie auch immer gelagerten „Wissensspeicher“ keine adäquate Antwort auf die kommunikativen Bedürfnisse von Geflüchteten ist. Solche Angebote – von denen wir zunächst auch eines erstellen wollten – gibt es bereits zahlreich, sie werden allerdings bis auf wenige Ausnahmen wie Afeefa nur selten intensiv von Geflüchteten genutzt. Das liegt vor allem daran, dass diese Angebote an deren Mediennutzungsverhalten vorbei zielen. Obwohl es sich dabei sprachlich, kulturell und auch sozialstrukturell um eine sehr heterogene Gruppe handelt, zeichnet sich die online-mediale Kommunikation von Geflüchteten durch eine große Gemeinsamkeit aus: Informationen werden in personalen Netzwerken vermittelt und vor allem validiert.
Neben WhatsApp ist Facebook der zentrale Kanal für diese Form von Kommunikation. Dort sind Gruppennachrichten und thematische Gruppenseiten der wichtigste Weg, Informationen zu erhalten und bereit zu stellen. Deswegen haben wir uns für unser Projekt „Medien und Asyl“ dazu entschieden, die Geflüchteten auf eben dort abzuholen, anstatt eine eigene Plattform einzurichten, auf der sich die Nutzerinnen und Nutzer eigens anmelden müssten. Die von unseren Studierenden gemeinsam mit Chemnitzer Geflüchteten konzipierte und gegründete Gruppe heißt „Chemnitz for All“ und hat Vorbilder in thematischen – allerdings ethnisch und sprachlich getrennten – Facebook-Gruppen wie „Syrisches Haus Berlin“.
[Informationen zu Hintergrund und Ergebnissen finden sich auf der Projektseite und werden zudem kommendes Jahr in einem Projektbericht veröffentlicht. Das Projekt wurde vom BMBF im Rahmen von „Lehrpraxis im Transfer“ gefördert und hat den sächsischen Lehrpreis 2016 erhalten.]
Facebook-Fahndung und Facebook-Jubel
Solche Facebook-Gruppen spielten für die Verhaftung des mutmaßlichen Terroristen Jaber al-Bakr eine zentrale Rolle. Nach dem missglückten Zugriff konnte al-Bakr nach Leipzig fliehen, wo er offenbar noch am Hauptbahnhof in einer „syrischen Online-Gruppe“ (BILD) um eine Unterkunft bat. Zwei junge Männer schrieben zurück und nahmen al-Bakr auf. Am Sonntag wurden sie durch übersetzte und geteilte Fahndungsaufrufe in syrischen Facebook-Gruppen darauf aufmerksam, dass er der Gesuchte sein könnte, setzten ihn fest und gingen zur Polizei. Laut dem verlinkten BILD-Bericht diskutierten sie zuvor mit anderen Syrern auf Facebook, ob ihr Gast der gesuchte Terrorist sein könnte. Bemerkenswert daran ist weiterhin, dass auf arabisch übersetzte Fahndungsaufrufe bereits am Samstagvormittag in Chemnitzer und Leipziger Facebook-Gruppen kursierten (in unserer auch), während die Polizei erst am Sonntagabend eine offizielle Übersetzung auf arabisch veröffentlichte.
In den Facebook-Gruppen kam es während der Fahndung und nach der Festnahme zu starken Reaktionen insbesondere Syrischer: Beleidigungen und Verwünschungen gegen den vermeintlichen Terroristen wurden unter das Fahndungsfoto gepostet, Sorgen über negative Folgen für das eigene Leben in Chemnitz und Deutschland formuliert. Als dann am Montag bekannt wurde, dass Syrer den Verdächtigen festgesetzt hatten, folgten Freudesbekundungen und Stolz über die Landsmänner wie auch Spott für den vermeintlichen IS-Terroristen.
weiterführende Artikel:
„Syrer feiern Festnahme des Terrorverdächtigen“ – Spiegel-Online
„Damit niemand sagt, alle Flüchtlinge seien Terroristen!“ – Süddeutsche Zeitung
Kommentar: „Na so was, es gibt auch gute Syrer!“ – ZEIT-Online