Wenn ich mit den Arbeiten anderer Forscherinnen zu meinem Thema auseinandersetze, tue ich das nicht nur auf der ‚wissenschaftlicher Ebene‘. Ich prüfe die Texte und Thesen nicht nur logisch auf Konsistenz und Sinn oder ob sie mir methodisch angemssen erscheinen. Ich versuche nachzuvollziehen, was vor dem Verfassen des Textes passiert ist. Wie die Gedanken, die schließlich zu Papier gekommen sind, ihren Weg fanden. Das mache ich nicht zuvorderst, um mich abzulenken, sondern weil ich vor genau derselben Aufgabe stehe. Ich erforsche etwas Ähnliches (zumindest glaube ich das) und muss es ebenso in einer wissenschaftlichen Argumention darstellen und diskutieren.
Ich beginne dabei zwangsläufig auch die Forscherinnenpersönlichkeiten und ihre Motive zu konstruieren, meistens indem ich sie mir einfach als Kolleginnen vorstelle. Was wäre, wenn ich Autorin XY in der Cafétria träfe? Wenn ich Gelegnheit hätte, sie bei einem Kaffee zu fragen, wie sie dieses oder jenes Problem für ihre Arbeit gelöst hat? Wie ist sie wohl auf ihr Thema – das auch mir gerade relevant für meine Fragestellung scheint – gekommen? Wie hat sie ihren Zugang ins Feld gefunden? Wie erging es ihr beim Aufschreiben und reflektieren ihrer Daten? Solche Gedankengänge helfen mir wie gesagt und sei es nur insofern, als dass ich die frustrierenden Phasen des eigenen Forschungsprojekts auf imaginäre andere projiziere. Hin und wieder schreibe ich den Betreffenden dann auch eine Email oder lerne sie auf Kongressen kennen und stelle ihnen meine Fragen wirklich.
Bei zwei Forscherinnen, die für meine Dissertation relevante Themen bearbeitet haben, fühlen sich diese Gedankengänge beklemmend an. Ich könnte die Kolleginnen nicht tatsächlich befragen, weil sie vergleichsweise jung verstorben sind. Die Vorstellung, mich nicht mit ihnen unterhalten zu können, betrübt mich. Vielleicht liegt es am unangenehmen Moment des Erstaunens, bei der Literaturrecherche zu begreifen, warum es keine aktuellen Publikationen der Autorinnen gibt. Sicherlich aber auch, weil es spannend wäre, zu hören, was sie zu allem, was seit ihrem Tod passierte, denken würden. Jedenfalls tröstet mich der Gedanke, meine Auseinandersetzung mit ihren Arbeiten hier stattdessen kurz andeuten zu können.
Diana E. Forsythe – Softwaredesign als kulturelles Phänomen
In den 1980er Jahren, lange bevor es Gegenstand von Symposien oder Sonderausgaben wurde, untersuchte die Anthropologin Diana E. Forsythe (1947-1997) die Praxis der Programmierung von Künstliche Intelligenz-Systemen als kulturelles Phänomen. Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Beobachtung, dass die so genannten „Expertensysteme“ in der Regel im Moment des Übergangs von der Laborwelt in die Anwendungssituation versagten – Und die Programmierer dieses Problem als ‚end user failure‘ bezeichneten.
Forsythe konnte – nicht nur in ihren resultierenden Artikeln, sondern auch im Miteinander mit den KI-Forscherinnen – zeigen, dass das Scheitern dieser Systeme nicht in den Nutzern sondern vielmer im reduktionistischen Verständnis von Wissen bei der Erstellung gründete. Besonders anschaulich entfaltete sie die epistemologischen und politischen Folgen dieser Misskonzeption empirisch am Beispiel eines Expertensystem zu Migräne („New Bottles, Old Wine: Hidden Cultural Assumptions in a Computerized Expert System for MIgraine Sufferers“, 1996). Anhand einer Ethnographie rekonstruierte sie dabei, wie die Rollen von Doktor und Patient in einem machtförmigen Wissensgefälle durch den Designprozess des Systems reproduziert wurden.
Neben ihren inhaltlichen Beiträgen zum (im weiteren Sinne) Feld der „Laborstudien zu Künstliche Intelligenz“, lebte Diana E. Forsythe eine wünschenswerte Eigenschaft von Wissenschafts- und Technikforschung: Nämlich die Konstruktions- und Erzeugnungsprozesse von neuen Systemen mit den betreffenden Akteuren zu diskutieren. Sie war die meiste Zeit in Informatikfakultäten angestellt und hat dort neben den neuen Beziehungen in den Technikwissenschaften zwischen Institutionen wie Krankenhäusern, kollaborierenden Programmieren, Patienten und öffentlichen Akteuren auch ihre eigene Rolle reflektiert: Als befristete Professorin, die stets von der „soft money“ der KI-Kollegen abhängig war. Inwiefern diese Form der Anstellung auch das Forschen und Veröffentlichen beeinflusst, hat sie ihm Aufsatz „Ethics and Politics of Studying up in Technoscience“ (1999 posthum) beschrieben.
Barbara Becker – KI-Paradigmen rekonstruieren
Die promovierte Soziologin und Philosophin Barbara Becker (1955-2009) hat als eine der ersten Autorinnen aus sozialwissenschaftlicher Sicht zu Künstlicher Intelligenz-Forschung in der Anwendung veröffentlicht (1992). Die Stärke ihrer Kritik an der Computer-Metapher des menschlichen Geistes liegt in der Differenzierung sowohl zwischen verschiedenen KI-Diskursen aber auch der zwischen einer eher kognitionstheoretischen KI und einer eher ingenieurswissenschaftlichen, „praktischen“ KI. Eine Unterscheidungsachse im heterogenen Feld der KI, die spätere empirische Fallstudien wieder aufgreifen sollten (Rammert 1998).
Beckers Arbeit zeichnet sich durch eine hohe Sensibilität und ein tiefes Verständnis für die Modellierungsarbeiten und -notwendigkeiten der KI-Forscherinnen aus. Sie blieb dem Themebereich treu und bearbeitete ihn in unterschiedlichen interdisziplinären und internationalen Zusammenhängen wie zum Beispiel in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, wo sie mit Informatikern zu sozialen Apsekten neuer Technologien veröffentlichte (z.B. 1999).
Insbesondere ihre Arbeiten zur verkörperten Kognition und „Embodied emotional agents“ wurden auch inenrhalb des technischen Diskurses rezipiert. Becker machte dabei u.a. phänomenologische Positionen gegenüber reduktionistischen Begriffen stark (z.B. 1998). Zu Beginn der 200er Jahre integrierte sie ihre Überlegungen in eine umfassendere sozialphilosophische Diskussion des Verhhältnisses von Körper und Identität in neuen Technologien wie Virtual Reality und Robotik (z.B. 2000).
Wie auch bei Forsythe kulminierte bei Barabra Becker das Forschen zu Informatik in einem beständigen Vermitteln zwischen den Wissenschaftskulturen der Geistes- und Technikwissenschaften. In diesem Bestreben, ihre Neugier aber auch ihrer Trennschärfe im Umgang mit den eigenen epistemologischen Annahmen und in der Differenzierung beobachtbarer Praktiken sind mir beide Forscherinnen ein Vorbild.