Der Fahrstuhltext

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Beschriftung einer trostspendenden Anzeige in einem Fahrstuhl im Gebäude der Chicago Tribune. Photo Corry Doctorow  under CC 2.0 BY-SA  on flickr

Es gibt Texte, die einem immer wieder begegnen. Stefan Hirschauers „Fahrstuhltext“ [PDF] ist so einer. Erschienen in der Zeitschrift „Soziale Welt“ (50/1999) zeichnet den Aufsatz eine Qualität aus, die man „Klassikern“ zuschreibt: Anhand des spezifischen Subjekts der Praxis des Fahrstuhlfahrens wird eine universelle Perspektive entfaltet. Aus diesem und einem aktuellen Grund (siehe 2.), will ich den Text kurz vorstellen (1.).

1. Mit Hirschauer Fahrstuhl fahren

Der Fahrstuhltext ist selbst eine Fahrt durch mehrere Abstraktions-Stockwerke soziologischer Arbeit. Seine Ausgangsfrage konzipiert den Fahrstuhl als Fall umfassenderen soziologischen Interesses:

Wie transformiert ein Fahrstuhl das elementare Interaktionsgeschehen, das soziale Situationen konstituiert?

Während das originale Einführungskapitel mit Ausblicken in eine weite Landschaft sozialer Theorie gespickt ist (u.a. finden Beck, Watson, Sacks, Latour, Mauss und Augé Erwähnung), zeigt die englische Übersetzung von 2005 (HTML) ihren Ausgangspunkt genauer auf: Goffmans „civil inattention“ (PDF), eine Theorie der Minimierung von sozialer Anwesenheit in Begegnungen an öffentlichen Orten. Bevor Hirschauers Studie davon inspiriert zu ihrem empirischen Teil kommt, macht der Fahrstuhl zweimal bemerkenswert Zwischenhalt.

Zunächst entfaltet Hirschauer auf drei DinA4-Seiten eine sehr gut recherchierte Kulturgeschichte des Fahrstuhls, die dessen technische Genese und seine kulturelle Implikation nachzeichnet. Als Ergebnis des Weges vom Bergbau-Lastenaufzug zum Alltagsgerät arbeitet er zweierlei heraus: Zum einen die Rolle des „Nutzers“, als selbstverantwortlichen Bediener eines Automaten, zum zweiten die resultierende (disziplinierte) Praxis des Fahrstuhlfahrens.

Bevor er zur ethnomethodologischen Analyse dieser Praxis kommt, hält der Text noch in einem Zwischengeschoss. Hirschauer versetzt sich in die Perspektive von rational choice-Ansätzen, die das Benutzen eines Fahrstuhls als Problem des Nutzenkalküls verstehen: Lohnt sich das Warten auf die Kabine im Vergleich zur eingesparten Zeit / Kraft? Ohne es explizit so zu nennen, bezieht er sich damit auf einen Großteil des „Forschungsstands“ zu Fahrstuhlfahren als wissenschaftlichem Gegenstand. Besonders in der Informatik ist das Kalkül von Fahrstuhlfahrern als Entscheidungsproblem (NP-hard) populär (z.B. Nikovski/Brand 2003). Hirschauer macht schließlich drei Limitierungen des Ansatzes für sein Interesse deutlich, die allesamt gemein haben, die Praxis des Fahrstuhlfahrens für dessen Berechenbarkeit unzulässig zu vereinfachen.

Die folgenden vier Stockwerke folgen chronologisch der Benutzung eines Fahrstuhls: das Einsteigen, das Einnehmen eines Platzes, das Verhalten in der Kabine (Blicke und Wortwechsel) und das Aussteigen werden vor allem unter Verweis auf Goffman (civil inattention, Territorien des Selbst) analysiert. Die Beobachtungen und Befunde sind in essayistischer Lässigkeit vorgetragen, was den Blick auf den validen Korpus dieser Studie verstellen mag. Sie beruht wesentlich auf einer Übung aus einer Einführungsvorlesung, in der Hirschauer Studierende der Uni Bielefeld in sechs Jahrgängen Beobachtungen aus Fahrstühlen sammeln ließ, ergänzt um punktuelle Beobachtungen von reisenden Kollegen (Paris, Minnesota, Florenz, Bombay). Die daraus folgende mikrosoziologische Analyse ist detailliert und überzeugend:

Der Blick auf die Stockwerkanzeige ist ein komplexes Darstellungsphänomen, das mit dem Auffüllen des Fahrstuhls verschiedene Stadien durchläuft: […] Einem Mitfahrer kann durch den Blick auf die Anzeige gezeigt werden, daß man ‘wartet’ und nicht etwa ‘herumlungert’ (z.B. stumpf vor sich hinblickt). Der Blick auf die Stockwerksanzeige signalisiert wie der Blick auf die Uhr (etwa an Bushaltestellen) eine Inkongruenz von innerer und äußerer (hier: vom Automaten diktierter) Zeit.

Die eingangs gelobte „klassische“ Stärke des Textes wird dann im Schlusskapitel deutlich. Hirschauer diskutiert die beobachteten Techniken des interaktiven Aufrechterhaltens von Beziehungslosigkeit im Hinblick auf die Grenzen von Handlungstheorie. Was zeigt uns diese Praxis der Herstellung von Fremdheit? Nach Hinschauens Analyse vor allem die Feinheit der Modulation von Anwesenheit in sozialen Situationen. Der auf der Hand liegenden Kommunikationstheoretischen Fassung des Problems („Wer gemeinsam im Fahrstuhl ist, kann nicht nicht kommunizieren“) hält er die Materialität der Situation entgegen: Bestimmt von zwei Automaten – dem Fahrstuhl und dem eigenen Körper – müssen Fahrstuhlfahrende Handhabungen für ihre Situation finden. Schlussendlich plädiert er ganz im ethnomethodologischen Sinne dafür, diese als praktische Verschränkungen heterogener Ordnungen zu verstehen, um die Komplexität dieser schlichten Praktik nicht der Theorie halber auf einen Aspekt (wie Rationalität) zu reduzieren, sondern im Gegenzug stark zu machen.

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Das Bild ist ein Screenshot eines eigens programmierten Interfaces für die Kontrolle der Fahrstuhlelektronik aus der ROS-Middleware eines Roboters heraus.

2. Mit Robotikern Fahrstuhl fahren

Leicht zu erahnen, dass Ingenieure und Wissenschaftler, die Roboter mit Menschen in Fahrstühlen fahren lassen wollen, mit diesem Plädoyer nicht besonders viel anfangen können. Denn Roboter, die nach wie vor deterministische Maschinen sind, müssen mit konkreten Zuständen und Auslösesignalen gefüttert werden, nicht mit der vagen Aussicht auf Heterogenität und Komplexität.

Aber warum sollten Roboter a) Fahrstuhl fahren und b) sich Robotiker mit Hirschauer beschäftigen?

Ersteres ist leicht zu erklären: Die Roboter sind immer noch auf dem mühsamen Weg aus dem Labor in die „echte“ Welt. Der erste Schritt geht in den Korridor vor dem Labor und von dort aus ist es nicht weit bis zum nächsten Fahrstuhl. Während meines derzeitigen Forschungsaufenthalts in den USA bin ich nun schon auf die zweite Forscher_innen-Gruppe gestoßen, die einen Roboter autonom im jeweiligen Uni-Gebäude umher fahren lassen will und deshalb das Problem des Fahrstuhlfahrens (und seine zahlreichen Unterprobleme) lösen muss.

Damit erklärt sich auch, wie dabei Hirschauer ins Spiel kommt: Konfrontiert mit der Frage nach sozialwissenschaftlichem Input zu diesem Problem habe ich jeweils den Text – der einst Teil des Einführungsseminars in Kultursoziologie war –  empfohlen und kurz vorgestellt. Ich habe im Anschluss daran selbst teilnehmende Beobachtungen an Fahrstühlen in vier Unigebäuden gemacht, um Verhalten unter Wartenden zu explorieren. In Ergänzung zu Hirschauers Beobachtungen lässt sich sagen, dass die meist verwendete Strategie der Minimierung sozialer Anwesenheit vor dem Fahrstuhl heutzutage der Blick aufs Smartphone ist.

Mit Robotikern Fahrstuhl zu fahren ist also gezwungenermaßen genau das, was Hirschauer anmahnt: Zunächst einmal eine Reduktion der Situation auf wenige Inputs, die dann nach relativ einfachen Regeln prozessiert werden müssen. Genau an der Stelle, den einfachen Regeln, finden die Robotiker, mit denen ich derzeit arbeite, Hirschauer und Goffman aber spannend. Die feingliedrigen Beobachtungen zu räumlichen und interaktiven Mustern (zum Beispiel den geografischen Grundformen des Aufstellend nach maximalem Abstand im Fahrstuhl) sind für sie direkt anschlussfähig und nutzbar. Die Frage der einzusetzenden quantitativen Werte (Abstand, Dauer, etc.) ist dann eine Frage des experimentell zu bestimmender Schwellenwerte.  „Threshold“, englisch für Schwellenwert, ist in der Robotik ein regelrechtes Zauberwort, es steht für die Operationalisierung von potentiell sehr komplexen Sachverhalten nach der Taktik: Das ist nur eine Frage des Übergangs gut genug definierter Zustände. Außerdem verschiebt es das Problem der Bestimmung in die Zukunft (das anschließende Experiment mit dem laufenden Roboter) und ermöglicht so erstmal das Implementieren eines reduzierten Modells, ohne prüfen zu müssen, ob es funktioniert.

Ich bin jedenfalls glücklich, im Anwendungsfall „Praxis des Fahrstuhlfahrens“ ein Stück weit gemeinsamen Grund mit den Robotiker_innen zu finden und ihre Konzeptualisierung und Operationalisierung von sozialen Situationen beobachten zu können.

7 Kommentare

Ich kenne den Hirschauer-Text nicht. Werde ihn die nächste Tage lesen. Nach Deiner Darstellung im 1. Abschnitt analysiert Hirschauer anscheinend das, was Luhmann Kommunikationsvermeidungskommunikation nannte. Mit Goffman kann man die Funktion der Kommunikationsvermeidungskommunikation noch genauer bestimmen. Es geht darum in Situationen, in denen durch die räumliche Beschaffenheit die Anwesenden gezwungen werden, sich gegenseitig so nahe zu kommen, dass einige der Anwesenden in die eigene Comfort Zone eindringen. Dies geschieht z. B. in vollbesetzten Bussen und Bahnen oder auch in Fahrstühlen. Das Problem wird durch die wechselseitige Unbekanntheit der Anwesenden noch gesteigert. Ziel ist es durch offensichtliches Vermeiden von Augenkontakt die unvermeidliche Aufdringlichkeit nicht noch weiter zu steigern. Das macht natürlich nur Sinn, wenn sich jemand bedrängt fühlen könnte. Roboter werden vermutlich keine Comfort Zone haben und sich somit auch nicht bedrängt fühlen. Wenn Robotiker nun tatsächlich solche Konventionen berücksichtigen und Robotern den Respekt vor den Territorien des Selbst einprogrammieren, wird ja irgendwie die Illusion geschaffen, der Roboter hätte auch ein Selbst, also Meads Me. Man könnte dass auch so verstehen: die Roboter sollen intelligenter erscheinen als sie tatsächlich sind, damit sich die Anwesenden weniger unwohl fühlen. Auf der anderen Seite wäre das auch ein Weg die Akzeptanz von Technik im Alltag zu erhöhen, indem die Roboter in ihrem Verhalten menschlicher erscheinen.

Deine Beschreibung der Kommunikationsvermeidungskommunikation (operationalisiert in körperl. Nähe & Blickrichtungen) und trifft den Kern sowohl von Goffmans Anliegen der „civil inattention“ als auch Hirschauers Studie derer unter den zugespitzten Bedingungen der Körperfalle Fahrstuhl.

Besonders gut finde ich Deine Frage nach den Implikationen von Designprinzipien „sozialer“ Roboter. Tatsächlich ist die am häufigsten zu beobachtende Strategie, menschliche Konventionen zu imitieren bzw. zu berücksichtigen, um den Nutzern einen angenehmen Umgang mit der Maschine zu ermöglichen. Diese Strategie ist aber meist nicht experimentell belegt, sondern eine Art sich aufweichender common sense unter HRI-Forschern (human robot interaction). Und sie scheitert auch oft, weil die Nutzer häufig dazu tendieren, die Grenzen einer intelligent / selbstbewusst erscheinenden Maschine zu testen. Nachdem die Grenzen einmal getestet oder durchschaut sind, lassen die regelmäßigen Benutzer der Einsatzgebäude die Maschinen ziemlich eiskalt links liegen (verweigern Kooperation und Beschäftigung), was die Robotikforscher_innen häufig sehr frustriert. Dementsprechend lautete auch die zweite Frage an mich meist: „Und wie kann man dafür sorgen, dass die Leute gern damit interagieren.“

Spannend. Wenn ich Dich richtig verstehe, wird also schon versucht das Verhalten von Robotern menschlicher erscheinen zu lassen. Allerdings gibt es Menschen, die schon mal versuchen die Grenzen der Territorien des Selbst dieser Roboter zu testen. Und dann stellt sich heraus, dass hinter der Fassade gar kein kränkbares Selbst steckt und verhalten sich dann auch entsprechend. Mich würde interessieren, was Du auf die 2.Frage antwortest.

Zufällig hörte ich heute früh eine Radiosendung über Inklusion von Behinderten ins Arbeitsleben. Dabei wurde mir klar, dass die Robotiker versuchen dasselbe Problem zu lösen, wie Inklusion für Behinderte. Ich denke hier besonders an Schwerstbehinderte, die weder in Bezug auf sich selbst oder andere Imagepflege betreiben können. Es ist wahrscheinlich ein ähnliches Unbehagen, das Personen in Gegenwart von Behinderten überkommt, wie in Gegenwart von Robotern.

Doch sowohl Behinderte wie Roboter werden immer damit zu kämpfen haben, dass andere Personen versuchen ihre Grenzen auszutesten. Das macht dann auch eine Antwort auf die 2. Frage so schwierig. In Bezug auf Roboter würde ich antworten: „dann müsst ihr ihr Verhalten noch menschlicher machen“. Eine Lösung, die man Behinderten, speziell die die ich im Auge habe, nicht vorschlagen kann. Goffman hatte ja auch dieses Problem untersucht und die Lösungsstrategien in „Stigma“ beschrieben. KI-Forscher werden damit vermutlich nicht viel anfangen können. Einige Behinderte, die keine sichtbare Behinderung haben, können versuchen ihre Behindert-Sein zu verbergen. Solange Roboter Menschen nicht zum verwechseln ähnlich sehen, werden Roboter ihr Roboter-Sein kaum verbergen können. Da hilft dann vermutlich auch keine noch so gut programmierte Imagepflege.

Entschuldige bitte die verspätete Antwort:

Ja, du hast mich richtig verstanden und ich finde auch Deine Gedanken zu den Grenzen des Sozialen fruchtbar. Ich würde die fehlschlagende Zuschreibung / versuchte Implementation sozialen Verhaltens bei Robotern allerdings aufgrund des Stands der Technik noch weiter einschränken: Die Menschenähnlichkeit als Konstruktionsziel scheint mir in vielen Fällen ein naiver / positivistischer Zugang zu Interaktionen zu sein. Das Motto scheint zu sein: „Wenn es bei uns klappt, muss es auch mit denen klappen.“ Die Sozialwelt und ausgewählte Ausschnitte daraus als zu kopierende Modelle für Mensch-Roboter-Interaktion zu verstehen, scheint in der Krise zu sein. Ein Anhaltspunkt dafür: Noch vor 10 Jahren war Sprachausgabe und damit Konversationsfähigkeit (und damit hohes Failure-Potential) Bestandteil der meisten Experimente und Prototypen, heute ist die HRI-Forschung wesentlich differenzierter und hat sich im Zuge einer Psychologisierung des Feldes auf vergleichsweise „kleinere“ Effekte aufgesplittert.

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