Wir sind nie unmittelbar gewesen

Die wichtigsten Einschränkungen vorweg: Natürlich ist Onlinekommunikation
a) relevant, da allgegenwärtig und immer noch zunehmend, und
b) durch einen hohen Anteil sozio-technischer Vermittlung gekennzeichnet.

Beides aber ist m.E. kein Grund, sie zu etwas gänzlich Anderem als den uns bislang zur Verfügung stehenden Theorien und Methoden zu exotisieren.

Zu dieser These plane ich einen Aufsatz für ein Themenheft, dessen Stoßrichtung ich hier kurz skizzieren will, um von Euch und Ihnen Input zu erbitten. Ich freue mich über Kommentare, Tweets und Mails!

Was ist Digitalisierung?

Kurzer Vorspann, ohne den es ja doch meist nicht geht: Digitalisierung sind mindestens zwei unterschiedliche Dinge. Einerseits ist Digitalisierung die Umsetzung von analogen in digitale Signale und damit die Durchdringung von Alltagswelten durch digitale Technik, also ein beobachtbares Phänomen. Andererseits ist Digitalisierung die Diagnose einer ganzen gesellschaftlichen Dynamik (siehe z.B. die Begriffsangebote von Krotz und Hepp und anderen). Im zweiten Fall ist Mediatisierung also eine Beobachtung, bzw. Beobachtungsperspektive, nämlich eine, die Medienwandel und sozial-strukturellen und kulturellen Wandel verknüpft.

Erste These: In den Sozialwissenschaften sprechen wir meistens von Digitalisierung als Beobachtung und reden damit mindestens genau so viel über ,uns‘ und ,unsere‘ Theorien, wie über konkrete Digitalisierungsphänomene. (Was das bedeuten kann, haben Jünger und Schade für die Kommunikationswissenschaft pointiert gezeigt.)

Onlinekommunikation als das Andere

Zweite These: Weil wir bei Digitalisierung oft eher über Beobachtungsperspektiven sprechen, neigen wir dazu, den konkreten Gegenstand „Onlinekommunikation“ als Gegensatz oder Auflösung bestehender Konzepte von Kommunikation und Interaktion zu verstehen.

Ich will kurz an drei Beispielen zeigen, wie Onlinekommunikation oftmals falsch zu face-to-face-Kommunikation ins Verhältnis gesetzt wird.

a) Digitalisierung vom technischen Medium her gedacht
Onlinekommunikation wird oftmals vom technischen Medium ihrer Vermittlung her gedacht. Das ist ein Fehler, weil die daraus folgende Konzeption von Onlinekommunikation immer an vormals bestehenden (technischen) Medien anknüpft: So hat die Kommunikationswissenschaft auch im Jahr 2011 noch festgestellt, dass sich soziale Netzwerkseiten der raschen Einordnung entziehen, „weil sie weder die Reihe der traditionellen Massenmedien noch die Reihe der Medien für interpersonale Kommunikation einfach fortsetzen“ (Neuberger 2011: 34).

Ja, Facebook ist keine Zeitung und kein Fernseher. Nein, Onlinekommunikation ist deswegen nicht etwas vollkommen Anderes. Onlinekommunikation führt nicht einfach eine bestehende mediensystematische Beobachtungsperspektive fort, sondern funktioniert nach neuen Prämissen. Eines davon ist eine leichtere Veränderlichkeit (bspw. von Plattformen und Kommunikationsformen), weswegen eine Orientierung an klassischen Kategorien der Publizistik wenig robust ist.

b) Digitalisierung als Multiplizität der Öffentlichkeiten
Ein zweites Standardargument zur Exotisierung von Online-Kommunikation ist die Entgrenzung von privaten und öffentlichen Sphären im Internet. Auch hier wird die Beobachtungsperspektive mit der empirischen Realität verwechselt: Viele Kommunikations- und Öffentlichkeitstheorien arbeiten mit einer für moderne Gesellschaften konstitutiven Unterscheidung von privat und öffentlich. Die Bedeutung einer ,funktionierenden Öffentlichkeit‘ für Demokratie-Theorien sei hierbei beispielhaft erwähnt.

Ich erkenne selbstverständlich an, dass diese Unterscheidung durch online-mediale Kommunikation besonders offensichtlich irritiert wird – Aber nicht, dass privat/öffentlich eine ,natürliche‘, gegebene und vor allem scharfe Trennlinie wäre, die den empirischen Gegenstandsbereich „menschliche Kommunikation“ strukturiert. Vielmehr hat sich Privates und Öffentliches schon immer vermischt und liegt nicht zuletzt aus der Perspektive der Handelnden immer in gemeinsamen Zusammenhängen vor.

c) Komplexität von Onlinekommunikation
Aus meiner Sicht am Ärgerlichsten ist ein häufig als dritte Eskalationsstufe gezündetes Argument, dass Onlinekommunikation aufgrund dieser Aufweichung von öffentlich/privat und ihrer technischen Vermitteltheit in besonderer Weise komplex sei. Die dahinterliegende Annahme, das nicht-technisch vermittelte Kommunikation weniger komplex sei, ist schlichtweg falsch. Man gewinnt in theoretische und methodologischen Texten mithin den Eindruck, Nicht-Onlinekommunikation läge in ihren sozialen Arenen immer eindeutig und gut getrennt analysierbar vor – was natürlich Unsinn ist.

Wir sind nie unmittelbar gewesen

Dritte These: Die Exotisierung von Onlinekommunikation leidet an einem unzureichenden Verständnis der prinzipiellen Vermitteltheit menschlichen Tuns. Virtualität – also der Bezug auf Wissen und Symbole, die nicht verkörperte Gegenstände vorliegen – ist ein konstitutives Merkmal der menschlichen Kommunikation: Sprache ist ja auch kein Abbild von Welt, sondern Verhandlungsgrundlage und Struktur von Wahrnehmung und Austausch.

Einem methodologischen Angebot zur Analyse von Onlinekommunikation muss es also um die Art und Weise dessen Vermitteltheit gehen, weil menschliche Erfahrung immer vermittelt ist. Es darf nicht – wie zu oft zu beobachten – bei einer Behauptung der Andersartigkeit bleiben.

Ich verstehe, dass es nahe liegt, Onlinekommunikation im Vergleich zu face-to-face-Kommunikation oder anderen Formen von Medienkommunikation zu analysieren: Allein, die Andersartigkeit darf nicht zur prinzipiellen methodologischen Prämisse werden. Vielmehr sehe ich eine Reihe von Konzepten und Begriffsangeboten, wie Onlinekommunikation in Kontinuität zu bestehenden Kommunikations- und Interaktionstheorien analysiert werden kann. (Das liegt auch deswegen nahe, weil die allermeisten Menschen nicht ausschließlich online kommunzieren und die Onlinekommunikation als solche ja immer auch von nicht-digitalen Faktoren abhängt.)

Der Gedanke, den ich in dem zu schreibenden Aufsatz verfolgen will, ist diese Kontinuität: Was gewännen wir, wenn wir Onlinekommunikation nicht als das gänzlich Andere verstehen, sondern als neue, sicherlich eigenlogisch strukturierte Arena von Alltagshandeln?

Die Rolle von Technik und Medien der Vermittlung finden wir schon bei Klassikern der Handlungs-, Kommunikations- und Interaktionstheorie wie Weber, Goffman und Strauss. Die Forderung nach einem neuen Goffman für das Internet-Zeitalter, ließe sich meines Erachtens also leicht damit beantworten, dass die bestehenden Theorien von Interationsstrukturen sehr wohl geeignet sind, Onlinekommunikation zu untersuchen.

2 Kommentare

Ich merke bei Ausführungen wie den deinigen oben immer wieder, wie stark die Soziologie doch von diversen Strömungen der Linguistik profitieren könnte (et vice versa) – dass sich also doch mehr Kooperationsmöglichkeiten anbieten, als häufig de facto wahrgenommen und genutzt werden. Das Verhältnis ‚der‘ Sprachwissenschaft zu den Sozial- und Kulturwissenschaften ist sicherlich komplex – aber ich denke, dass in diesem Verhältnis nicht unwesentlich ein spezifisches Bild von Sprachwissenschaft und dieses natürlich nicht ohne Grund wirksam ist (Saussure und Chomsky spielen hier sicher eine wirkmächtige Rolle), das vielleicht für weite Teile der Linguistik gültig ist, für viele andere aber nicht (mehr) gilt. Und eben jene Teile werden von ganz analogen (theoretischen und empirischen) Fragen umgetrieben, wie du sie oben stellst: Von der Gesprächsforschung, der Text- und Medienlinguistik bis hin zu den unterschiedlichen Bereichen der Multimodalitätsforschung mit mehr oder weniger linguistischem Background (um die Spannweite nur anzudeuten).

Zu einzelnen Punkten deiner Ausführungen vielleicht der ein oder andere Literaturhinweis. (Vielleicht ist ja was brauchbares für dich dabei.)
Der sich hartnäckig haltende Mythos von der Unvermitteltheit der F2f-Kommunikation hat sicherlich mit etwas zu tun, was Jäger (2000) die „Sprachvergessenheit der Medientheorie“ nennt: Mediengeschichte beginnt nicht erst mit der Erfindung der Schrift. Diese Sprachvergessenheit wird seitens der Linguistik gespiegelt von einer „Medienvergessenheit der Sprachtheorie“ (ebd.), die aber mittlerweile in weiten Teilen der linguistischen Pragmatik produktiv bearbeitet/abgebaut wird, wo sie nicht ohnehin in den 1970er Jahren schon ins Theoriefundament eingelassen war. Die Einsicht in die Medialität von Sprache und also die grundsätzliche Vermitteltheit jeglicher Kommunikation ist also in Teilen der Sprachwissenschaft schon eine gut etablierte Einsicht.
Mich persönlich interessiert im interdisziplinären Zusammenhang ja die Frage, welche Theoriekonvergenzen möglich würden, wenn man die nicht-hintergehbare Materialität von Zeichen wirklich ernst nähme, wie das in linguistischen Medientheorien bspw. stark gemacht wird. Gerade für die linguistischen Perspektiven auf die Technik- und Körpersoziologie genauso aber auch auf die Medienwissenschaft (und auch deren Blick zurück) würde das m.E. bedeuten, dass der seltsame Sonderstatus von Zeichen im Vergleich zu anderen Dingen, mit denen gesellschaftlich umgegangen wird, auf eine produktive Art und Weise hinterfragbar wird.
In meiner Diss habe ich zu den ein oder anderen Punkten auch ein paar Zusammenhänge dargestellt. Im Kapitel II findest du sicherlich die eine oder andere Literaturangabe, die dir für deinen Artikel vielleicht weiterhelfen kann.
Um nur einen Begriff davon herauszugreifen: In der Medienlinguistik hat sich besonders der Begriff der Kommunikationsform als einer etabliert (vgl. bspw. Domke 2014), der sich anschickt, die gesamte Bandbreite vortechnisch und technisch vermittelter Formen, die Kommunikation ermöglichen, auf den Begriff zu bringen. D.h., mit dem Kommunikationsformenbegriff ist also ein Beschreibungsapparat ausgearbeitet, der kommunikationsstrukturelle Bedingungen in unterschiedlichen, historisch verfestigten Konfigurationen erfassen kann, und in denen dann sprachlich-kommunikativ gehandelt werden kann. Im Prinzip kann man damit Bücher genauso wie Plakate, Chats, Blogs, Tweets, und diverse Ausprägungen von F2f-Kommunikation gleichermaßen differenziert beschreiben – also im Hinblick auf ihre Medialität und mithin dem „Kontingenzrahmen“ (ebd.), der durch sie für sehr unterschiedliche Kommunikationsprozesse aufgespannt wird.
In einem Artikel habe ich einmal versucht, diesen Begriff an die rezente Diskussion um eine medienwissenschaftliche Praxeologie anzuschließen (siehe Meiler 2017). Im betreffenden Sammelband kannst du auch sehen, dass dieser Begriff natürlich auch innerhalb der Medienlinguistik unterschiedlich, mitunter kontrovers diskutiert wird – aber das ist ja gewissermaßen überall so. 😉

Bevor ich hier zu ausschweifend werde, vielleicht nur noch ein Gedanke zur Unterscheidung on/offline. Ich bin da ganz bei dir, dass mit ihr mehr Vorurteile hypostasiert, als Einsichten gewonnen werden. Gerade im Hinblick auf sprachlich-kommunikative Praktiken würde ich sagen (und schreibe es seit ein paar Tagen auch in einen Vortrag, den ich nächste Woche in Stockholm halte), dass (medienlinguistische) Gegenstände immer zweiseitig bedingt werden: von ihrer Medialität her und von ihrer Kulturalität her. Insofern macht es keinen Sinn, einen Gegenstand von der einen oder der anderen Seite her zu bestimmen und bspw. zu sagen, das hier ist als Online-Kommunikation zu untersuchen ODER das hier ist als Wissenschaftskommunikation zu untersuchen. Sondern demgegenüber muss man sich anschauen, wie beides im differenzierten Wechselspiel von Medialität und Kulturalität zu beschreiben ist. Und dabei hilft die Unterscheidung on/offline gar nicht, weil damit eine künstliche Grenze gezogen wird, deren Gültigkeit für eine Praktik zunächst einmal zu zeigen wäre.
Damit entgeht man dann auch der von dir anzitierten genealogischen Annahme der mediengeschichtlichen Fortsetzung von Massenmedien im Internet (vgl. auch Habscheid 2005): Einerseits bietet ‚das‘ Internet sehr unterschiedliche Kommunikationsformen (nicht/öffentliche; Massen-/Meso-/1:1-Kommunikation; audio/visuelle; uni/bidirektional; a/synchron …) und diese sind schließlich ausgesprochen differenziert für diverse gesellschaftliche Handlungsbereiche/Domänen (Journalismus, Wissenschaft, Unterhaltung, Sport, Werbung, Religion, „Privates“, …) fruchtbar gemacht worden und finden in deren kommunikativen Haushalt (Luckmann) ihren je spezifischen Ort.

Dabei belasse ich es jetzt erst mal. Vielleicht ist das eine oder andere ja ein Anstoß, mit dem du weiterarbeiten kannst.

LG

Domke, Christine (2014): Die Betextung des öffentlichen Raumes. Eine Studie zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Flughäfen und Innenstädten. Heidelberg: Winter.
Habscheid, Stephan (2005): Das Internet – ein Massenmedium? In: Siever, Torsten/Schlobinski, Peter/Runkehl, Jens (Hg.): Websprache.net. Sprache und Kommunikation im Internet. Berlin, New York: de Gruyter, S. 46–66.
Jäger, Ludwig (2000): Die Sprachvergessenheit der Medientheorie. Ein Plädoyer für das Medium Sprache. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Sprache und neue Medien. Berlin, New York: de Gruyter, S. 9–30.
Meiler, Matthias (2017): Media Linguistics and Media Studies – Communication Forms and Their Infrastructures. In: Brock, Alexander/Schildhauer, Peter (Hg.): Communication Forms and Communicative Practices: New Perspectives on Communication Forms, Affordances and What Users Make of Them. Frankfurt a.M.: Lang, S. 45–66.
Meiler, Matthias (2018): Eristisches Handeln in wissenschaftlichen Weblogs. Medienlinguistische Grundlagen und Analysen. Heidelberg: Synchron.

Vielen Dank für Deinen Text 🙂 Hab aus einer anderen Perspektive was über die Kontinuitäten geschrieben, vll ist das für Dich interessant: https://medialabs.hypotheses.org/995
Möchtest Du auch eine These dazu formulieren, wieso Onlinekommunikation exotisiert wird? Erste Überlegung bei mir: In unserem jetzigen Wissenschaftssystem müssen wir dauernd die Relevanz unserer Forschung in Anträgen, auf Vorträgen und in Artikeln damit begründen, dass es sich bei dem, was wir da machen (wollen) um den wirklich allerneusten heißen Scheiss dreht. Digital, Internet, Online als komplett neu und sehr komplex zu markieren schafft mehr Gelder ran.

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