„Moses‘ Brücken“

Alttestamentarische Anspielungen finden sich eher selten in meinem Repertoire, und hier soll es auch nicht um einen Propheten, sondern um einen vermeintlichen (?) Apologeten technokratischen Rassismus‘ gehen. Aber eigentlich geht es darum, wie eine Wirkbeziehung zur verbeiteten Parabel wird und was hinter ihr steckt. Und das am Ende natürlich alles irgendwie schon so ist, nur etwas differenzierter und komplizierter.

Robert Moses (1888-1981) war einer der erfolgreichsten Stadtplaner des 20. Jahrhunderts. Zu seinen ersten Projekten als Direktor einer eigens dafür geschaffenen Behörde zählt der Ausbau des Long Island Parkway Systems, einem insgesamt 200 Kilometer langen Netz von Schnellstraßen, das die Stadt New York mit ihren auf der Insel gelegenen Außenbezirken verbindet. Der Begriff Parkway bezieht sich dabei sowohl auf die naturalistischen Mittelstreifen und Fahrbahnränder, die zu einer gemütlichen Fahrweise verführen sollen, als auch auf ihren Zweck: Die Zufahrt zu bislang mühsam über Nebenstraßen zu erreichenden Ausflugszielen zu ermöglichen. Moses städtebauliches Idealbild war die „autogerechte Stadt“, nach dem PKW-Individualverkehr anderen Verkehrsformen, insbesondere kommerziellem Lastverkehr und öffentlichem Nahverkehr, bevorzugt wurde.

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Southern State Parkway – Photo by Doug Kerr (2004)

Da die Parkways viele kleinere Straßen kreuzen, führen insgesamt 204 Brücken über sie. Das ergibt einen Schnitt von einer Brücke pro Straßenkilometer. Diese sind vergleichsweise niedrig gebaut, wodurch die Durchfahrtshöhe auf maximal 11 Fuß/3,30 Meter beschränkt wird, so dass Busse und LKW die Parkways nicht benutzen können. Hier beginnt nun die Parabel, die durch Langdon Winners Artikel „Do Artifacts have Politics?“ in die Techniksoziologische Debatte eingebracht wurde: „Sie wurden bewußt und gezielt von jemandem so niedrig entworfen und gebaut, der einen bestimmten sozialen Effekt erzielen wollte.“ [Winner 1986: 2; Übers. Joerges 1999: 2] Nämlich die nicht über ein eigenes Autombil verfügenden armen, insbesondere schwarzen Bewohner New Yorks von den Stränden Long Islands fernzuhalten. [Winner 1986: 3]

Photo by Doug Kerr (2004)
Brücke über Bethpage State Parkway – Photo by Doug Kerr (2004)

Es wird sofort plausibel, warum dieser argumentative Zusammenhang so häufig zitiert und wiedergegeben wird: Es handelt sich um eine Theorieminiatur, deren Zusammenhang in ein einziges Bild gesetzt ist. Die Parabel zerfällt in drei gekoppelte Behauptungen: a) die (rassistische) Absicht des Konstrukteurs b) die daran orientierte Gestaltung der Brücke als zu niedrig für Busse und c) der so erreichte Ausschluss vorwiegend schwarzer Bevölkerungsteile von den Stränden Long Islands. Die damit repräsentierte Technik-Sozial-Theorie besagt, technische Entscheidungen sind nicht nur geprägt von kulturellen Einflüssen sondern ziehen zwingende soziale Folgen nach sich, sind also selbst politisch. [Besonders der letzte Halbsatz ist die Stoßrichtung Langdon Winners.]

Außerdem besitzt die Parabel rhetorische Qualitäten, die ihre Verbreitung fördern: Sie bedient sich aller vier Tropen, semantischer Stilmittel, die mit Übertragungen des Gesagten/Geschriebenen in andere Bedeutungsfelder arbeiten. Der metaphorische Wert der Parabel liegt auf der Hand, sie versinnfälligt die genannte Technik-Sozial-Theorie und liefert mit „Moses‘ Brücken“ sogar einen Titel. Als Metonymie lässt sie sich lesen, da sie die Ursache für die Wirkung nimmt: Den (angeblichen) Anhänger der Rassentrennung als Ursache der Strandsegregation. Ihre synekdochische Qualität besteht in der Generalisier- und Konkretisierbarkeit der von der geringen Durchfahrtshöhe Betroffenen, die von „Armen“ zu „Schwarzen“ spezifiziert und von dort auf „Diskriminierte“ generalisiert werden können, was die Reichweite der Theorieminiatur erhöht. Außerdem – und abweichend von Bernward Joerges der diese kluge Beobachtung unter Bezug auf die Aristotelische Rhetorik in einer Fußnote macht [Joerges 1999: 14] – würde ich der Parabel auch Ironie zuweisen: Der Zugang zu den Stränden soll erhöht werden, indem er bestimmten Anderen verwehrt wird.

Insofern eine sehr gute Parabel, die so populär geworden ist, dass sie den Rahmen der akademischen Öffentlichkeit längst verlassen hat und in Zeitungsartikeln u.Ä. angeführt wird. Leider ist sie ein bisschen zu gut, um genau zu sein. Bernward Joerges hat die Zitations- und Rezeptionsgeschichte („Stille Post“) der Parabel 1999 für einen Zeitschriftenartikel rekonstruiert, und dabei auch einen „Fact Check“ geführt. Lutz Prechelt hat diesen für eine Vorlesung aufgegriffen und um eigene Recherchen zur Geschichte der New York Parkways ergänzt. Auch wenn die grundlegende Stoßrichtung der Parabel (die Politik der Dinge) durchaus ihre Berechtigung behält, muss sie doch von der Intention eines Einzelnen – wenn auch einflussreichen – Planers ausgeweitet werden: Die Bedingungen der Möglichkeit des Automobils als verbreitetes Individualverkehrsmittel, die bestehende soziale und rassistische Segregation der US-amerikanischen Gesellschaft in den 1920er Jahren und der bürokratische Apparat rund um die „Parkbehörde“ sind als Ursachen viel eher in Betracht zu ziehen, wie die Überprüfung der drei Behauptungen der Parabel zeigt.

a) Eine explizite Motivation Moses‘, mit den Parkways Arme/Schwarze fernzuhalten, lässt sich nicht belegen. Die einzigen Quellen für den Zusammenhang sind zwei ehemalige Mitarbeiter, deren für eine Moses-Biografie protokollierten Erinnerungen zumindest implizit das Ausschließen von Busverkehr unterstellen. Gleichzeitig lassen sich viele Hinweise darauf finden, dass Moses als Angehöriger der weißen Ostküstenoberschicht und Protagonist der Idee der „automotive city“ sozialdarwinistisch dachte und zumindest als struktureller Rassist gelten kann. Seine Arbeit als Stadtplaner war von einer patronisierende Haltung gegenüber unteren Schichten geprägt, die er im Rahmen von sozialen Wohnungsbauprojekten zu hunderttausenden Umsiedeln ließ.

b) Dass die Brücken so niedrig konstruiert sind, um vorwiegend öffentliche Verkehrsmittel namentlich Busse von der Benutzung der Parkways abzuhalten, ist ebenfalls schwer zu belegen. Es ist eher so, dass der behördliche Bauauftraf Vorschriften folgte: Die [von Moses mit verantworteten] gesetzlichen Rahmenbedingungen des Baus sahen vor, das Parkway-Netz generell nur PKW-Verkehr zugänglich zu machen. Eine physische Beschränkung durch niedrige Brücken ist damit durchaus vereinbar und richtet sich, zumindest dem Text nach, gegen kommerziellen Verkehr im Allgemeinen.

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Aus einer Broschüre (PDF) des New York Departmenet of Transportation.

c) In welchem Umfang Ärmeren der Zugang zu den Stränden Long Islands tatsächlich verwehrt wurde, muss ebenfalls eingeschränkt werden. Bereits in den 1920er Jahren gab es eine öffentliche Zuglinie und außerdem einen für Busse zugänglichen Freeway nach Long Island. Arme/Schwarze wurden also nicht generell von den Stränden Long Islands abgehalten, wohl aber von jenen, die erst durch Parkways erschlossen wurden: Einsame und exklusive Strände im östlicheren Teil der Insel.

Moses‘ Idee, diese angenehmen Flecken Landschaft zu Ausflugszielen zu machen, deren erholsame Wirkung bereits bei der Fahrt beginnt, war vermutlich ganz selbstverständlich damit verbunden, dass sich dort keine Armen/Schwarzen zum selben Zweck aufhielten. Einer expliziten Motivation zur Rassentrennung hat es für Ostküstentechnokraten und Verwaltungsangestellte in den 1920er Jahren ebenso vermutlich gar nicht bedurft.
Sind die Brücken und ihre ausschließende Wirkung auf Nicht-Automobilbesitzer deswegen weniger diskriminierend? Nein, ganz und gar nicht. Moses‘ Brücken sind ein Paradebeispiel dafür, wie technologisch-infrastruktureller Fortschritt (zumal aus öffentlichen Mitteln finanziert) als Akteursperspektive und rhetorische Absicht immer auf Verbesserung zielt, und gleichzeitig verschweigt, wer dadurch wie exkludiert wird. Unter Erwähnung der durch Joerges herausgearbeiteten Einschränkungen der zu spitzen Verdichtung Winners, taugt die Parabel durchaus weiterhin als Theorieminiatur für Technik-Sozial-Theorie(n).

L. Winner (1986): „Do Artifacts have Politics?“ In: ders. „The Wahle and the Reactor“. Chicago: University of Chicago: S. 19-39 [zuerst 1980 in Daedalus (0011-5266), 109, S. 121-136].

B. Joerges (1999): „Die Brücken des Robert Moses – Stille Post in der Stadt- und Techniksoziologie“, Leviathan, 27 (1), 1999, S. 43-63.

L. Prechelt (2011): „Techniksoziologie“ (Folien), Vorlesung Institut für Informatik, FU Berlin, SoSe 2011.

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