Ich bin in einem Text auf die Unterscheidung komplex / kompliziert gestoßen, die ich hier kurz diskutieren will (1.), um Sie dann auf das Problem „sozialer Software“ zu beziehen (2.), welches auch eine Rolle in meinem Diss-Projekts spielt.
In der theoretisierenden Einleitung „Elemente einer Akteur-Medien-Theorie“ von Erhard Schüttpelz [Auszug, PDF] wird Unterscheidung komplex / kompliziert durch Bruno Latour aufgegriffen. Latour macht diese u.a. in seiner Studie über Paris als gekoppeltes technisches System.
Complex relations force us to take into account simultaneously a large number of variables without being able to calculate their number exactly or to record that count, nor a fortiori, to define it’s variables. The lively and animated conversation we’re attempting, leaning on a bar counter, is complex, as is the course of a ball and the play of football teams in a match, or the fine coordination through wich an orchestra listens to or filters the emanation of each instrument and voice. By contrast, we’ll call ‚complicated‚ all those relations which, at any given point, consider only a very small number of variables that can be listed and counted.
(Latour 2006 [frz. 1998]: 30, Hervorhebung AB) [Volltext, PDF]
Ich finde diese Unterscheidung sehr interessant, da sie uns mit einem Problem konfrontiert, das im Grunde an allen aktuellen Mensch-Maschine-Schnittstellen wieder auftaucht: Der Versuch der Operationalisierung von Alltagssituationen in Algorithmen. Weiterführend schließt sich aus sozialtheoretischer Sicht die Frage an, wie sich solche Vorgänge und ihr (Nicht-)Gelingen in eine gute soziologische Erklärung überführen lassen. Aber zunächst einmal müssen wir die Unterscheidung komplex / kompliziert rekonstruieren.
1.) Komplex / kompliziert bei Latour
Was wird hier beschrieben? Im Grunde geht es um eine Taktik, kleinschrittige Abläufe abzugrenzen, um diese technisch behandelbar zu machen. Besonders in bürokratischen und technischen Kontexten geht es darum, Handlungen in möglichst simple Einzelschritte zu zerlegen. Zum Beispiel, weil die Handlungen durchviele verschiedene Beteiligte – wie Abteilungen, Datenbanken, konkrete Mitarbeiter, verschiedene Ein- und Ausgabemasken – „hindurch“ koordiniert werden müssen. Eine Unterteilung, die dieser Taktik folgt, wird als kompliziert bezeichnet, da sie aus vielen verschalteten Einzelschritten besteht. Diese geben jeweils nur eine kleine Auswahl an Handlungsoptionen („variables“), und machen dadurch nur einen bestimmten Ausschnitt der Umwelt bearbeitbar. Schüttpelz gibt das Beispiel des Call-Center-Anrufschemas, das Gesprächsverläufe nach Frage-Antwort-Rastern formt. Somit wird ein durchaus komplexe Situation wie die telefonische Bearbeitung eines technischen Problems in aufeinanderfolgenden Schritten standardisiert behandelbar.
Komplex ist dagegen der Zustand, in dem sich nicht nur nicht alle Variablen oder überhaupt deren Anzahl konkret bestimmen lassen, sondern diese auch noch gleichzeitig anstatt nacheinander wirken. Latour nennt im Zitat Beispiele wie Bargespräche, das Fußballspiel oder wie ich finde besonders anschaulich, das Zusammenspiel eines Orchesters, das sich koordiniert, indem es aus seinem eigenen Klang einzelne Instrumente und Stimmen isoliert. Die Praxis der Aufführung ist komplex, da sie nicht symbolisch in einer feinsäuberlichen Partitur stattfindet, sondern in einem Raum, möglicherweise mit elektrischer Vestärkung, meist vor Publikum, und in jedem Fall durch Musikerinnen mit Instrumenten – eine Konstellation in der es unzählige Variablen gibt, die das Zusammenspiel beeinflussen. Exemplarisch sei eben die von Latour angeführte akustische und visuelle Orientierung aneinander, an sich selbst, an der Partitur und am Klang des eigenen Instruments genannt. Im Abstimmen wird ein weiteres Merkmal von Komplexität deutlich: Die Taktik des Erfassens entlang von Fehlern und Problemen. Die Bearbeitung komplexer Situationen beginnt an und strukturiert sich entlang von Problemhorizonten. Im Beispiel wäre das etwa ein falscher Ton, ein zu schnelles Tempo oder eine ungewünschte Klangfarbe. Entlang dieser Störungen wird das emergent Phänomen Orchesterklang durch Anpassung unter den Musikerinnen neu ausgerichtet / korrigiert oder eben überhaupt erst (während Vorführungen stillschweigend) thematisiert.
Auf vier Gegensatzpaare gebracht kann man die Unterscheidung komplex / kompliziert wie folgt beschreiben und an Latours Beispiel exemplifizieren:
komplex | kompliziert |
---|---|
unbekannte Variablen | bekannte Variablen |
simultan | sukzessive |
nicht-linear | linear |
problematisierend | definierend |
unberechenbar | berechenbar |
Eine Partitur beschreibt symbolisch Operationen, die aus einer endlichen und definierten Menge an Variablen bestehen. Sie ist linear ausnotiert und führt Instrumente(ngruppen) zeilenweise auf. Die gelungene Aufführung einer Partitur sieht sich einer unkalkulierbaren Menge an Variablen zum Gelingen / Nicht-Gelingen ausgesetzt. [Vermutlich ist die Aufführungs- und Rezeptionspraxis klassisch orchestraler Werke auch deswegen so eng kodifiziert]. Die Instrumente erklingen simultan und insofern auch nicht linear. Latours Beispiel zeigt, wie eben durch die besondere (Körper-)Technik des Hörens und Abstimmens aufeinander die Linearität der Partitur in der Aufführung kompensiert werden muss, was sie zu einem komplexen statt komplizierten Vorgang macht.
2.) Komplexität verkomplizieren
Mit Latours Differenzierung lassen sich übrigens auch schöne Wortspiele anstellen, wie es diese Zwischenüberschrift versucht. Ich will es aber (aunahmsweise) nicht beim Witz belassen, sondern erklären, wieso ich die „Verkomplizierung der Komplexität“ für paradigmatische Aufgabe von Softwareingenieuren, Systemdesignern, Usability-Gestaltern, Nutzermodellierern und auch Kognitionspsychologen halte. Diese Berufsrollen haben besonders im Hinblick auf die computergesetütze Behandlung von Alltagssituationen und „Laien-User“ das Ziel, komplexe Situationen berechenbar und damit kompliziert zu machen. Sie müssen die potentielle Unkalkulierbarkeit von kontigenten Alltagssituationen in berechenbare Einzeloperationen zerlegen und umformen. Und üblicherweise fängt diese computerisierte Bearbeitbarmachung von Abläufen mit der Etablierung der genannten Differenz zusammen: Die Trennung in zerlegbare / (vorerst) nicht-zerlegbare Abläufe ist ein künstlich geschaffenes „Gefälle“ (Schüttpelz, S. 43), das den Beginn technischen Einrichtung markiert.
In den Fachgemeinschaften HCI und Sozialrobotik, auf deren Kongressen und in ihren Publikationen ist die Suche nach computerisierbaren Modellen für solche Probleme der Kern der Aufmerksamkeit. Und zunehmend ist das Gütekriterium für diese Arbeit das adäquate Funktionieren außerhalb des Labors, nämlich in den konkreten Alltagssitutationen. Bei der Bearbeitung dieser komplexen Probleme konnte ich bislang zwei interessante Abweichungen in der Definition komplex / kompliziert beobachten. Die erste besteht in der Annahme, dass auch hochkomplexe und kontingente Situationen mit sehr vielen, den Systemdesignern nicht zwangsläufig bekannten Variablen prinzipiell berechenbar sind. Dafür wird u.a. das Buzzword „Big Data“ in Anschlag gebracht, das verkürzt gesagt davon ausgeht, dass innerhalb großer Datenmengen spezielle Algorithemn in der Lage sind, die „Struktur“ der Situationen und die relevanten Variablen selbstständig zu isolieren und zu berechenen. Dieses Programm ist eng an die Voraussetzungen stetig steigender Rechenleistungen und automatisierter Datenerhebungen gekoppelt.
Für mich – als nach den Kriterien und Mechanismen der Entwurfsprozesse Fragender – ist die zweite Umdeutung des Verhältnisses komplex / kompliziert noch interessanter. Häufig wird die Differenz auf linear / nicht-linear reduziert, um aus der vermeintlichen Schwäche der Informationstechnik, dem linearen Prozessieren, eine Stärke zu machen. Durch die hohe Geschwindigkeit der Datenverarbeitungen können nacheinander geschaltete Berechnungen in ihren Ergebnissen nicht nur ebenso schnell, sondern häufig sogar schneller als vergleichbare menschliche Entscheidungsprozesse laufen. Mir geht es bei dieser Beobachtung aber zunächst weniger um die Ergebnisse solcher Operationen, als die damit einhergehende Verunsichtbarung ganz zentraler Entscheidungen der Entwickler und Entwicklerinnen. Indem nämlich die Anzahl und Relevanz der Einflussgrößen (Variablen) zu bestimmender Alltagssituationen nicht zum eigentlichen Problem gerechnet werden, fallen sie in einen häufig unterbestimmten und wenig reflektierten Raum. Die Entwickler und Entwicklerinnen treffen hierbei Entscheidungen über die zu beachtenden Variablen entweder auf Basis eigener lebensweltlicher Erfahrung [„Für mich klingt das so.“], oder ausgehend von Adhoc-Modellen [„Dirigenten hören besser hin.“] beziehungsweise individualisierenden psychologischen Konzepten [„Klangverarbeitung geschieht zeitlich vor Entscheidungsfindung.“]. So geraten nicht nur konkrete Einflussfaktoren und eine dezidiert sozialtheoretisch inspirierte Bearbeitung der Handlungsprobleme von HCI und Sozialrobotik aus dem Blick, es findet auch ein folgenreiche Umdeutung und unzulässige Vereinfachung der zu bearbeitenden Probleme statt.
Modelle bestimmter sozialer Situationen, die behaupten alle relevanten Einflussfaktoren upfront zu kennen und erfolgreich operationalisieren zu können, implizieren eine Steuerungsmöglichkeit, die zum einen so de facto nicht gegeben ist und zum anderen eine bestimmte, problematische Art der Weiteren Bearbeitung dieser Situationen bedeutet. Am Beispiel von Sozialrobotern in der Altenpflege: Der Einsatz der komplizierten computersierten Modelle in einem verkörperten Pflegeroboter macht die Situation wieder kompliziert: Menschen reagieren u.U. anders auf das System, als sie es bei einem sich gleich verhaltenden Menschen täten. Lucy Suchmans Laborstudien haben gezeigt, wie im alltagsweltlichen Einsatz komplizierte und in sich durchaus stimmige Handlungsketten mit einer Art von Alltagskomplexität konfrontiert sind, die sie in der Regel zum Scheitern bringt. Außerdem operieren – soweit ich die betreffenden Felder bislang überblicke – im Grunde keine robusten Systeme, die mehr als zwei oder drei Faktoren „unfallfrei“ in Anschlag bringen können. Darüber hinaus sind diese Faktoren meist natürlich nicht semantisch, sondern eher physikalisch [z.B. Proxemitäten]. Im Beispiel der Alterspflege wird zudem deutlich, dass die Behauptung eines erfolgreich verkomplizierenden / entkomplexizierenden Modells zudem Folgen für die Situation an sich hat. Sowohl der Logik des zuständigen „Gesundheitssystems“ als auch der Steuerungsabsichten von anderen politischen und ökonomischen Akteursgruppen kommen solche Modelle natürlich zu pass und führen im Rückschluss zu neuen Regelungen und Berechnungen von Leistungssätzen führt, die wiederum die konkrete Situation [Pflegeeinrichtung – zu Pflegende – Aufgabe – technische Lösung], als auch die Situationsdefintion [Was ist abrechenbare Leistung? Was sind Nutzerbedürfnisse?] beeinflussen.
15 Kommentare
Da fällt mir sofort ein, warum ich STS so mag: Etwas zu verkomplizieren, ist eindeutig positiv konnotiert. Zum Beispiel führt Noortje Marres (2012: 140) den Begriff „redistribution of research“ lobend auf diese Weise ein: „This notion has been put forward in the social studies of science and technology (STS) to complicate our understanding of the relations between science, technology, and society.“
Ja, eindeutig ein kontraintuitiver Gebrauch 😉
Weiterführend in Hinblick auf „Komplexitätsbewältigung“ durch hierarchische Prozesse dürfte Christopher Alexanders Notes on the synthesis of form sowie seine eigene Kritik daran: a city is not a tree interessant sein.
dake für den hinweis! für interessiert hier der text als PDF: http://www.abc.polimi.it/fileadmin/docenti/TEPAC/2012/FONTANA/A_City_is_not_a_Tree.pdf
grundsätzlich finde ich ja eine Wertschätzung von Kompliziertheit eine feine Sache und auch die Unterscheidung Komplexität/Kompliziertheit, die selten scharf genug getroffen wird. Ich würde gerne zwei Anmerkungen machen:
Zum einen scheint mir die Gegenüberstellung von komplex und kompliziert im Rückgriff auf Variablen etwas kurz und eng. Man mag hier auf die frühen Vorläufer hinweisen, die sich bereits mit diesem Problem beschäftigt hatten. Mich persönlich überzeugte bislang am meisten die Unterscheidung Heinz von Foersters von „trivialen“ und „nicht-trivialen“ Maschinen. Mit dieser Unterscheidung kann als komplex verstanden werden, was bei gleichem input einen nicht mehr berechenbaren, nicht immer gleichen output erzeugt, oder anders: komplex heisst selbstorganisierend.
Mich stört ein wenig, dass oben von Variablen ausgegangen werden muss, die berechenbar sein sollen – oder im Falle von Komplexität eben nicht. Das engt m.E. das Verständnis sehr ein; eine allgemeinere Definition von Komplexität täte hier gut, v.a. wenn man sich im sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich bewegt, der gut beraten wäre, sich nicht immer und sofort auf die ‚Variabilisierung‘ der Sprache ihrer Beschreibungen durch die Sozialforschung und Co. einzulassen.
Zum anderen scheint mir die Gegenüberstellung von komplex und kompliziert eine Unterscheidung von zwei Unterscheidungen, statt von zwei Seiten einer Unterscheidung. Mit anderen Worten: die Gegenseite von ‚komplex‘ ist eben nicht: ‚kompliziert‘.
1. Unterscheidung: nicht-komplex | komplex (oder mit von Foerster: trivial | nicht-trivial)
2. Unterscheidung: einfach | kompliziert
Wenn man also von ‚Verkomplizieren‘ spricht (auch in besagten Beispielen – siehe auch Christians Kommentar), dann ist sicher nicht die Vereinfachung von komplex hin zu kompliziert gemeint, sondern eine gewisse „Vorsicht vor zu schnellem Verstehen“, wie es Luhmann nicht ohne Grund ausdrückt. Es geht also um eine Wertschätzung von Kompliziertheit als andere Seite brutaler Simplifizierungen. Und das zu Recht.
Last but not least können m.E. wissenschaftliche Analysen von Sachverhalten kaum auf kompliziert statt (!) auf komplex setzen – egal in welchem Kontext, da sie, als Strukturen, Resultate und Operationen von Strukturen, Resultaten und Operationen des Wissenschaftssystems eben selbst nur (als) komplex verstanden werden können. Sie sind selbst nur unter Reduktion von Komplexität durch Beobachtung als kompliziert zu verstehen. Die Frage nach der Unterscheidung von komplex/kompliziert ist somit eine Frage nach dem Beobachter – nicht eine nach der ‚tatsächlichen‘ Komplexität der ‚Sachverhalte‘. M.E. ist diese Frage nur mittels einer komplexen (!) Beobachtungstheorie angemessen (d.h. im Kontext aktuellen Auflösevermögens und heutiger Ansprüche der Wissenschaft) zu beschreiben, also durch eine Supertheorie, oder TheorieTheorie, oder Beobachtung dritter Ordnung (vgl. die Verwendung des Begriffs u.a. bei Peter Fuchs), eben eine Theorie, die sich selbst auf der Gegenstandsseite ihrer Beschreibungen wiederfindet.
Lieber Moritz,
herzlichen Dank für deine Einwände, die ich – auch wenn das nach einem billigen Trick klingt – sowohl aufnehmen als auch entkräften möchte. Ich verstehe absolut, dass du die Unterscheidung komplex/kompliziert wder für theoretisch informiert noch für einen gesättigten Beitrag zur Theoriebildung hältst. Da geht es mir ganz ähnlich. Was mich daran fasziniert hat – Und das hätte ich vielleicht deutlicher herausarbeiten sollen – ist, dass die Unterscheidung (nicht zwangsläufig in diesen Worten) „im Feld“ getroffen wird. Ich kann mich nicht dazu äußern, wo Latour diese Differenz theoretisch verortet, aber ich würde sagen: Mit den von Dir zurecht vorgebrachten Einwänden ist das genau die problematische Differenzierung, die Robotikforscher und HCIler machen, wenn sie sich explizit sozialen Situationen zuwenden.
Für eine Argumentation rund um diese Beobachtung sollte ich deutlicher machen, dass es sich um eine Abstraktion der Vorgänge in dort anzutreffenden Entwicklungs- und Entwurfsprozessen handelt. Ist in meinem Kopf alles noch sehr in progress.
Sehr schöne Antwort! Ist direkt in meinen Zettelkasten gewandert… 😉
ok, das macht es schon klarer, aber dennoch bleibt doch die Gretchenfrage:
‚Wie hältst DU’s mit der Komplexität?‘
Mich würde ja schon interessieren, welchen Komplexitätsbegriff du verwendest und wozu. Vor allem, wenn du schreibst „Weiterführend schließt sich aus sozialtheoretischer Sicht die Frage an, wie sich solche Vorgänge und ihr (Nicht-)Gelingen in eine gute soziologische Erklärung überführen lassen“ scheint mir ja schon ein eigenes theoretisches Interesse an dieser Fragestellung zu bestehen. Gerade im Zugriff auf den Zugriff auf Komplexität, (die Beobachtung von Beobachtern von Beobachtern auf einer Ebene dritter Ordnung) lässt sich diese Frage ja nicht einfach als ‚Gegenstand der Betrachtung‘ abtun, bzw. ruhigstellen (nicht, dass ich dir das jetzt unterstelle). Mit anderen Worten: bei der wissenschaftlichen Theoretisierung, einer „Abstraktion der Vorgänge in dort anzutreffenden Entwicklungs- und Entwurfsprozessen“, muss die Frage geklärt werden, wie du diese Beobachtung selbst reflektieren kannst, alles andere erschien mir unterkomplex.
Zwei weitere Fragen, nämlich die Frage der Diagrammatik und der Formalisierung solcher Beobachtungsverhältnisse (erster, zweiter und dritter Ordnung) erscheinen mir darüber hinaus noch wichtig; aber das wäre dann vielleicht wirklich erst ein weiterer Schritt – wissenssoziologisch aber sicher sehr relevant.
„
HeinrichMoritz! Mir grauts vor Dir!“Nein, natürlich nicht wirklich. Ich freue mich sehr, dass und vor allem wie Du nachhakst!
Um ehrlich zu sein, habe ich mich nicht für *einen* Komplexitätsbegriff entschieden. Zunächst einmal würde ich nach Luhmann sagen, dass Komplexität ja ein beobachter-/beobachtungsabhängiger Sachverhalt ist. Wie wird durch Robotikforscherinnen also ‚Komplexität‘ zugerechnet und bearbeitet? Und da stoße ich immer wieder auf die Differenzierung aus dem Post: Komplexität als Eigenschaft von Alltagssituationen, dere zahlreichen potentiellen ‚Störungen‘ (u.a. durch Interpretationen der Beteiligten Nutzer) in immer besseren und genaueren (häufig: näher an Funktionen menschlicher Kognition orientierter) Algorithmen kompensiert werden sollen. Man könnte aus systemtheoretischer Sicht also vom Versuch der Minimierung von Umweltkomplexität an den robotischen Schnittstellen durch die Forscherinnen sprechen. Das würde insofern zutreffen, als dass die verbreitete Sichtweise in diesem Feld immer noch ist, dass Menschen und nicht-kontrollietre Umgebungen (Nicht-Labore) eben nicht Teil des robotischen Systems sind und anders als diese Operieren. [Die anthropomorphe Linie der Sozialrobotik versucht zwar das Gegenteil, aber eben auf Basis dieser Feststellung.]
Mein obiger Text und auch eine meiner Arbeitshypothesen gehen allerdings – und ich denke da fragst mit Faust auch genau richtig hin – von einer relativ Holzschnittartigen Gegenüberstellung von kontingenten Alltagssituationen [‚komplex‘] und maschineller Bearbeitungen [‚kompliziert‘] dieser aus. Insofern sehe ich diese Unterscheidung, wiel ich sie herantrage.
Ich bin noch nicht so weit, die Unterscheidung der Beobachtungen zweiter Ordnung durch die Robotiker mit den von ihnen beobachteten Unterscheidungen [Kriterien der ‚Mensch-Roboter-Interaktion‘] in eine Form zu bringen. Aber das ist sicherlich das Ziel einer gelungenen Kategorienbildung.
„Gegenüberstellung von kontingenten Alltagssituationen [‚komplex‘] und maschineller Bearbeitungen [‚kompliziert‘]“
An dieser Gegenüberstellung wird für mich deutlich, warum Systemtheoretiker gegenüber der Unterscheidung komplex/kompliziert immer skeptisch bleiben werden. Systemtheoretisch würde sich die obige Gegenüberstellung folgendermaßen darstellen: Alltagssituationen (Komplexität) und maschineller Bearbeitung (Komplexitätsreduktion). Wenn Maschinen die Komplexitätsreduktion vornehmen, dann wäre die Situation die Umwelt und die Maschine das System. Aber auch die Formen der Komplexitätsreduktion produzieren wiederum Komplexität – die Eigenkomplexität des Systems bzw. in diesem Fall der Maschine.
Die Unterscheidung von komplex/kompliziert markiert damit einen Unterschied, der aus systemtheoretischer Perspektive keinen Unterschied macht, denn sowohl die Umwelt als auch das System sind komplex. Es sei auch nochmal daran erinnert, dass Komplexität einen Überschuss an Handlungsmöglichkeiten bezeichnet, die nicht alle in einem Moment realisiert werden können. Gerade das zwingt zur Unterscheidung/Entscheidung durch Komplexitätsreduktion. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dass die Einheit der Unterscheidung komplex/kompliziert der Überschuss von Handlungsmöglichkeiten ist, dann könnte man mit der Unterscheidung von komplex/kompliziert allenfalls mehr oder weniger große Überschüsse von Handlungsmöglichkeiten voneinander unterscheiden. Soweit ich die obige Darstellung von komplex/kompliziert nach Latour verstanden habe, würde es wohl irgendwie darauf hinaus laufen.
Wobei sich mir gerade am Beispiel des Orchesters die analytische Fruchtbarkeit der Unterscheidung nicht wirklich erschlossen hat. Das Problem besteht für mich darin, dass die Ausgangsunterscheidung komplex/kompliziert nur mit weiteren, für mich willkürlich gewählten, Unterscheidungen verstärkt wird (siehe dazu auch r33ntry‘s 1. Kommentar). Das stellt für mich aber noch keine Definition der Begriffe komplex und kompliziert dar. Hier müssten zunächst mal die Beziehungen der einzelnen Unterscheidungen/Bezeichnungen untereinander geklärt werden. Eine Systematik kann ich anhand meines Verständnisses der einzelnen Begriffe nicht erkennen. Außerdem erhöht eine solche Theoriebildung das Risiko, dass eines der Attribute mit denen die beiden Oberbegriffe bestimmt werden, auf einer der beiden Seiten der Unterscheidung wieder eintreten und damit die Unterscheidung komplex/kompliziert nicht mehr funktioniert. Für mich wird das besonders deutlich, wenn man von Möglichkeitsüberschüssen als Einheit der Unterscheidung ausgeht. Im Hinblick auf Techniksoziologie müsste dann mal geklärt werden, was Technik eigentlich bei der Reduktion von Möglichkeitsüberschüssen leistet. Hier würde dann die bereits erwähnte Unterscheidung von trivialen und nicht-trivialen Maschinen in den Blick kommen.
Sehr gute Hinweise. Ich sehe ein, dass meine anfängliche Freude über die Latour’sche Unterscheidung etwas früh war. Tatsächlich findet sich keine systematischere Aufarbeitung dieser Konzepte.
Im (vermeintlichen) Ausgangstext von 1988 [deutsch 2001: http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/57-INTEROBJEKT-DE.pdf ] scheinen zwei Hauptkriterien der Differenz auf. Der Passage folgend entwickelte sich die Differenz entlang der Achsen Simultainität und den Modus der Behandelbarkeit von Variablen, am ehesten wohl der Differenz Linear / Nicht-Linear entsprechend:
Sehr gut ist auch der Verweis auf die Techniksoziologie: Eine der empirischen Aufgaben meiner Dissertation ist es, zu rekonstruieren, welche Prozesse Beiträge zur angesprochenen Komplexitätsteduktion im Feld der Sozialrobotik leisten. Im Moment schaue ich mir das auf drei Ebenen an: Diskursiv, in der konkreten Forschungspraxis und in den technischen Bedingungen.
Mir ist nicht so richtig klar, worauf die Unterscheidung linear/nicht-linear in diesem Problmkontext abzielt. Ich würde hier von Sequentialisierung sprechen. Ein Überschuss an Möglichkeiten kann immer nur nacheinander abgearbeitet werden. Das gilt für Menschen, Affen oder Maschinen. Simultanität verstehe ich in diesem Zusammenhang als eine andere Bezeichung für das, was die Systemtheorie als Komplexität beschreibt. Von Moment zu Moment sind immer mehrere Anschlussmöglichkeiten gleichzeitig bzw. simultan gegeben. Ein Kommunikationsangebot gibt niemals eindeutig eine bestimmte Handlungsmöglichkeit vor, sondern es sind je nach Kontext und beteiligter Person mehrere Anschlussmöglichkeiten verfügbar. Ambivalenz oder Mehrdeutigkeit sind also weitere Möglichkeiten Komplexität zu beschreiben. Immer geht es um die Notwendigkeit eine Wahl treffen zu müssen, um die durch die Komplexität erzeugte Unsicherheit zu reduzieren. Spannend wird es dann bei der Frage, wie Programmierer ihre Programme programmieren, damit die Programme mit Ambivalenzen umgehen können. Hier kommt die Unterscheidung von trivialen und nicht-trivialen Maschinen wieder ins Spiel. Um mit Komplexität umgehen zu können, wären eigentlich nicht-triviale, selbstreferentiell und autonom operierende Maschinen, also im Prinizp künstliche Intelligenzen, notwendig. Ich würde im Anschluss daran fragen, handelt es sich bei den Programmen um triviale Maschinen, die den Eindruck von Nicht-Trivialilität erzeugen können, oder um „echte“ nicht-triviale Maschinen.
Es sei im Zusammenhang mit Techniksoziologie noch angemerkt, dass ich unter Technisierung Trivialisierung in Sinne einer vorgegebenen und berechenbaren Komplexitätsreduktion verstehe. Man könnte auch von einer Art der „Ritualisierung“ sprechen. Ambivalenzen werden dann aber nur aus der Perspektive des Systems eliminiert, aber nicht in der Umwelt. Möglicherweise ist dieser Eindruck von Eindeutigkeit gemeint, wenn von Linearität die Rede ist?
Auf der diskursiven Ebene würde es dann um die Frage gehen, ob das Problem der Komplexitätsreduktion im Hinblick auf das, was die Programme leisten sollen, so ähnlich gestellt wird, wie ich es versucht habe. Hinsichtlich der konkreten Forschungspraxis wäre dann zu fragen, welche Lösungen für dieses Problem entwickelt werden. Und mit Blick auf die technischen Rahmenbedingungen (die Umwelt) könnte man fragen, wie die bisherigen Lösungen die Reflexion (diskursive Ebene) und die Lösungsmöglichkeiten (Forschungspraxis) beeinflussen.
Latour übersieht bei seiner – meiner Meinung nach völlig verfehlten – Kritik des „Interaktionismus“, dass es um Integrationsprozesse, also der wechselseitigen und sukzessiven Einschränkung von Freiheitsgraden für Handlungsmöglichkeiten geht. Ob die Interaktionspartner Menschen, Tiere oder Maschinen sind, spielt dabei zunächst keine Rolle. Das Problem der Handlungskoordination ist immer dasselbe. Für die Lösung muss man nun mal die Aufmerksamkeit auf Bestimmtes richten und Anderes dafür ausblenden. Die Frage ist, wie das geschieht. Tiere tun dies bekanntermaßen auf eine andere Weise als Menschen. Ob Maschinen das gelingen kann, ohne auf menschliche Hilfe angewiesen zu sein, das ist die große Frage.
[…] Liebe Leser_innen, ich schreibe gerade viele schöne Sachen, nur leider nicht in diesem Blog, sondern in Word-Dokumenten, die bald meine Dissertationsschrift ergeben sollen. Dabei haben mir die Beiträge und Kommentare der hier Lesenden übrigens durchaus geholfen. So werde ich zum Beispiel im November auf der Jahrestagung der Fachgruppen Computervermittelte Kommunikation und Soziologie der Medienkommunikation der DGPuK einen Vortrag zum Thema des Blogposts komplex/kompliziert. […]
[…] Dezember 2013 habe ich hier im Blog Bruno Latours Unterscheidung von komplex und kompliziert vorgestellt. Erhard Schüttplez hatte sie in seiner wunderbaren Einleitung für »Akteur-Medien-Theorie« […]
Vielen Dank für eure Kommentare, die – viereinhalb Jahre später – zu einem schönen Sammelwerksbeitrag geführt haben!
–> http://andreasbischof.net/2018/05/29/komplex-kompliziert-accomplished/