Ein Monat partizipatives »Living Lab« – lessons learned

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Dr. Hanno Sauer hält einen Vortrag über moralische Implikationen von Technik im Rahmen des »Living Lab« Foto: Arne Berger Copyright: TU Chemnitz

Partizipation, also die Teilhabe an Prozessen, ist in Deutschland leider nach wie vor ein exotischer Ansatz, um andere soziale Gruppen als Entwickler und Geldgeber an Forschungs- und Entwicklungsprojekten zu beteiligen. Die interdisziplinäre Forschungsgruppe „Miteinander“, in der ich neben Informatikern und Designern als Soziologe angestellt bin, versucht deshalb nicht nur, Partizipation in der deutschsprachigen Informatik und Human Computer Interaction (HCI) zu etablieren, sondern als Ansatz auch methodisch und methodologisch zu beforschen. Die Daten dafür liefern wir uns in Auseinandersetzung mit dem Feld selbst: Wir entwickeln konkrete Prototypen und Kleinserien und methodische Innovationen, um über diese Designfälle partizipative Entwicklungsprozesse hervorzubringen und zu beobachten.

Im Artikel ordne ich den Ansatz und die Herausforderungen unseres »Living Lab« aus dem Juni 2016 methodisch ein. Im letzten Abschnitt ziehe ich sechs erste Schlussfolgerungen aus der Durchführung.

 

Leitidee: Bessere partizipative Prozesse führen zu besseren sozio-technischen Systemen

Wesentliche Eckpfeiler unserer zunächst für fünf Jahre finanzierten Arbeit als Nachwuchsforschergruppe sind deswegen intensive Feldphasen, in denen wir gemeinsam mit zukünftigen Anwenderinnen und Anwendern solche Produkte und die Prozesse ihrer Gestaltung explorieren und bewerten. Die etwas paradox klingende Kurzform unseres derzeitigen Projektstatus lautet deshalb: Wir entwickeln derzeit etwas, von dem wir zum einen noch nicht genau wissen, was es wird und zum anderen noch bewusst offen halten, welche kommunikativen Praktiken es in unserer Zielgruppe – intergenerationale Nachbarschaften – fördern soll. Das ist zwar eine durchaus riskante, aber alles andere als chaotische Unterbestimmtheit.

Vielmehr sind die damit verbundenen Herausforderungen bereits Gegenstand unserer Forschung und Reflexion: Wie können die Bedürfnisse und Rahmenbedingungen technologischer Entwicklung und konkreter sozialer Gruppen in Einklang gebracht werden? Wie lassen sich Anwenderinnen und Anwender möglichst früh in Entwicklungsprozesse einbinden? Was geschieht mit objekt- und technikzentrierten Prozessen, wenn sie mit „echten Menschen“ konfrontiert werden. Diese Fragen wollen wir durch parallele und aufeinander bezogene soziologische Begleitung, technologische Entwicklung und Gestaltung von Produkten und Prozessen beleuchten.

 

Feldphase »Living Lab« – Feldaufenthalt und Festival

Diese unterschiedlichen Prozesse bzw. Perspektiven darauf lassen sich aufgrund ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit bzw. Dynamik nicht zwangsläufig zeitlich synchronisieren. In einer interdisziplinären Forschungsgruppe mit sechs Wissenschaftlern sind zudem parallel kommunikative Kalibrierungs- und Koordinationsarbeiten zu leisten. Beiden Herausforderungen sind wir im vergangenen Monat mit einer intensiven gemeinsamen Feldphase begegnet: In einem 30-tägigen »Living Lab« in der Chemnitzer Innenstadt haben wir auf mehreren Wegen Feldkontakte hergestellt, empirische Daten erhoben und die eigenen Prozesse dokumentiert.

In insgesamt drei technologischen und zwei methodischen Unterprojekten haben wir elf verschiedene Erhebungsformate je zwei bis fünf Mal mit insgesamt über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. Außerdem haben wir das Ladengeschäft durch „Sprechzeiten“ (Mo-Do, durchschnittlich je sechs Stunden) und zwölf öffentliche Veranstaltungen sowie 15 Besuche in Bürgerzentren und Seniorenheimen zur aufsuchenden Öffentlichkeitsarbeit für unser Projekt und Teilnehmergewinnung genutzt. Durch Workshops mit eingeladenen Gastwissenschaftlern und „Gatekeepern“ im sozialen Feld unseres Interesses, wie etwa eine Leiterin von Computerkursen für Senioren, haben wir zudem Themen, Orte und Kooperationspartner für künftige Feldphasen erarbeitet. Kurzum: Das waren die intensivsten vier Wochen meiner bisherigen wissenschaftlichen Laufbahn, eine Mischung aus Feldaufenthalt und Festival.

Gleichzeitgkeit und Mehrschichtigkeit des Erlebens

Der Vergleich mit einem Festival illustriert die Vielschichtigkeit unseres »Living Lab«: Wie auf einem Festival gibt es ein kuratiertes Programm, das durch die Ordnung von Terminen, Themen und Akteuren eine Struktur vorgibt, die im Gelingenden Fall aber nur mehr den Rahmen des eigentlichen Zwecks bildet: Das verdichtete und kondensierte Erleben von den Dingen, die sich zwischen den Beteiligten entwickeln. Allerdings sind Bühne und Zuschauerraum in unserem Fall sehr wechselhaft: Expertenrollen sind volatil, Offenheit und Zuhören ist auf allen Seiten gefordert, niemand kann (dauerhaft) einseitig Produzent oder Konsument sein. Abgegrenzte Räume und Situationen, etwa eine Gruppendiskussion zwischen Senioren, sind eingefasst von informellen Begegnungen derselben Akteure. Ein „Workshop“ kann einmal eine Schulung von Senioren im Umgang mit Hardware-Bausätzen sein, ein andermal ein Erhebungsinstrument zur Entwicklung assoziativer Konzepte.

Diese Mehrschichtigkeit ist beabsichtigt und keineswegs ein methodisches Hyperventilieren. Es handelt sich vielmehr um eine Anerkennung der Komplexität sozialer Realität jeder Feldforschung – in der die Beteiligten nicht ausschließlich in den Idealisierungen Forschende/Beforschte interagieren. Die Gleichzeitigkeit bzw. enge zeitliche Folge der stattfindenden Begegnungen und Ambiguität ihrer Rollen und ihre wechselseitige Konstitution und die damit verbundenen Differenzerfahrungen sind der methodologische Schlüssel jeder soziologisch motivierten Ethnografie. Ein »Living Lab« ist eine ausgedehnte fokussierte Ethnographie (Knoblauch 2003).

Praktische Lektionen

Zu einem Erkenntnismittel wird ein »Living Lab« aber nicht durch das Erleben allein, sondern erst durch die Distanznahme, durch die retrospektive Befragung des Dokumentierten, das bereits im Notieren von Memos und Forschungstagebuch-Einträgen das wird, was Ethnographie bedeutet: Die Analyse komplexer sozialer Realität durch Reflexion und Interpretation des eigenen Erlebens.

Heute, am Abend der Schließung nach 30 Tagen »Living Lab« und intensiver Vorbereitung im Mai, befinden wir uns erst ganz am Anfang dieser Analyse. Ein kurzer forschungspraktischer Exkurs zur Organisation und Durchführung einer solchen Feldphase soll aber ein vorläufiges Luftholen bedeuten, eine ordnende Zäsur, die auf Themen der Analyse vorausblickt, vor allem aber in kurzen Thesen und Anstrichen gelernte Lektionen formuliert.

Partizipation ist kein Arbeitspaket – Partizipation ist kein Zustand sondern ein Prozess. Dieser Prozess ist per Definition nicht einseitig und kann sich dementsprechend nicht nur auf eine Richtung der Steuerung (Wissenschaftler > Zielgruppe) oder einzelne Funktionsrollen im Team beschränken: In einem »Living Lab« finden Feldkontakt, Erhebungen, Reflexionen und erste Analysen nicht alleinverantwortlich durch Sozialwissenschaftler oder Designer statt, das ganze Team ist gefordert. Das schließt den Abschied von lieb gewonnene Vereinfachungen wie den vermeintlich privilegierten Zugang von Soziologie zu sozialer Realität ebenso aus, wie die „splendid isolation“ von Entwicklern, die in partizipativen Projekten nicht behaupten können, dass ihre Arbeit vor allem „technisch“ und nicht auch konstitutiv sozial ist.

Partizipation entfaltet sich über Zeit – Ein Zeitraum von vier Wochen erschien uns im Vorfeld vergleichsweise lang, um den Bürostuhl gegen ein Ladengeschäft zu tauschen. Dass ein partizipativer Prozess in vier Wochen nur initiiert werden kann, war uns klar. Nach unseren Erfahrungen in Teilnehmergewinnung und Vernetzung mit „Gatekeeper“-Feldkontakten bedarf es einer etwa zwei bis vierwöchigen Phase vor dem eigentlichen »Living Lab«. Die „Laborphase“ selbst war bewusst breit organisiert und dient der Exploration des Ansatzes und Feldes. Wir haben Einstiege und erste Fälle produziert, keine fokussierten Feldphasen in situ.

Offenheit erfordert Aktivität – Die konstitutive Offenheit zu Beginn eines partizipativen Prozesses ergibt sich mitnichten durch Nichtstun. Es erfordert vielmehr sehr viel Aktivität, um nicht ohne empirische Grundlage entscheiden zu müssen, welche Faktoren Nützlichkeit und Ziel konkreter Entwicklungsprozess bestimmen sollen. Zum einen ist eine Kontaktaufnahme auf Augenhöhe zeit- und arbeitsintensiv. Das betrifft nicht nur die Akquise von Teilnehmern, sondern auch das Etablieren gemeinsamer Formate und Anknüpfungspunkte. Zum anderen bedarf die Herstellung von Offenheit unterschiedlicher methodischer Mittel und reflexiven Schleifen, beispielsweise zur Exploration von Problemen und Bedürfnissen in den konkreten beteiligten Gruppen. Neben fortlaufender Kommunikation und deren Strukturierung durch Moderation und Gruppenmethoden erfordert das auch Mut, Unsicherheiten und Differenzen zu erkennen, zu benennen und auszuhalten.

All is data – Der Satz von Barney Glaser ist so bekannt wie instruktiv: Ein »Living Lab« liefert mindestens so viele Daten durch Begegnungen und Erkenntnisse abseits verabredeter Erhebungen wie durch die Audio- und Videoaufnahmen von Workshops und Gruppendiskussionen. Wir haben vor allem Forschungstagebuch-Einträge und konzeptualisierenden Memos verfertigt und regelmäßig in der Gruppe diskutiert, um den Erlebnissen im Rahmen des partizipativen Prozesses und deren Kontexten gerecht zu werden. Das Diktum „all is data“ zielt dabei nicht auf eine möglichst impressionistische Beschreibung der Gefühlslagen der Beteiligten! Es geht vielmehr darum, durch beständigen Vergleich und probeweises Konzeptualisieren nützliche Daten für die unterschiedlichen Fragen im Forschungs- und Entwicklungsprozess zu gewinnen. Deswegen müssen Beobachtungen, Begegnungen und erste Erkenntnisse im Feld möglichst dicht und regelmäßig dokumentiert und ausgewertet werden.

Partizipation ist ein KollektivsingularDie Partizipation gibt es nicht. Stattdessen haben wir in unserem »Living Lab« unterschiedliche Ebenen und Formen von Partizipation gesucht und erlebt. Ein beispiel waren Anfragen von Senioren, die Probleme in der Bedienung ihrer Smartphones hatten, oder mit der Forderung zum Update auf Windows 10 auf dem Laptop konfrontiert waren. Diese Art von Problemen hat wenig mit den Zielen unserer eigenen technischen Entwicklungen – Internet-of-Things-Produkte in vernetzten Nachbarschaften – zu tun, aber viel mit Partizipation als Ansatz: Sie wurden durch das Feld an uns herangetragen und haben uns einen ersten Feldkontakt beschert, bei dem Zeit und Kommunikation in einem wechselseitigen Austausch-Verhältnis standen. Indem wir uns darauf eingelassen haben, haben wir mehr darüber erfahren, wie ältere Menschen kommunizieren und interagieren, als es durch Gruppendiskussionen zu von uns initiierten Themen gelungen wäre.

Und zum Abschluss:
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – Universitäten und Forschungsfinanzierung sind zu einem Gutteil bürokratische Angelegenheiten, die zwar dem Papier nach anderen Zwecken dienen, de facto zuweilen aber so ausgeklügelt sind, dass sich alle anderen Zwecke ihnen unterordnen. Wenn Informatiker Designer und Soziologen einstellen und dann auch noch ein leerstehendes Ladengeschäft mieten, um dort Wissenschaft zu betreiben, wird die Anpassungsfähigkeit solcher bürokratischen Prozesse und ihrer Umsetzenden herausgefordert. Unsere Erfahrungen in heiklen Fragen wie der Sicherstellung von Internetkonnektivität, Anzeigen über Social Media-Plattformen und das Kaufen von Keksen für Teilnehmer sind zuweilen leidvoll aber insgesamt optimistisch: Ein kühler Kopf, Diplomatie, Selbstbewusstsein, genaues Lesen und Beharrungsvermögen reißen zuweilen Löcher ins Verunmöglichungs-Kontinuum von Wissenschaftsverwaltung.

 

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